Forschende haben ermittelt, wie im Auge Schaltkreise zur Wahrnehmung von Bewegungen gebildet werden. In der Netzhaut des Auges erfassen identische Nervenzellen verschiedene Bewegungen. Dies ist jedoch nicht von Anfang an so. Kurz nach der Geburt übernehmen sie noch identische Aufgaben, bis sie ganz abrupt beginnen, zwischen der Wahrnehmung von verschiedenen Bewegungsrichtungen zu unterscheiden. Diese schnelle Umschaltung ist unabhängig von visuellen Eindrücken und vermutlich genetisch bedingt.
Unser Gehirn arbeitet nicht symmetrisch. Es ist bekannt, dass in der linkenGehirnhälfte andere Eindrücke verarbeitet werden als in der rechten. Doch das ist nicht die einzige Asymmetrie im Gehirn: Auch auf Zellebene übernehmen Zellen, die sich per se nicht unterscheiden lassen, ganz unterschiedliche Aufgaben. Zum Beispiel sind die Nervenzellen im Auge, die auf Links-Rechts-Bewegungen reagieren, nicht aktiv, wenn sich Dinge von rechts nach links durch unser Blickfeld bewegen, und umgekehrt. Sie erfassen nur Bewegungen in einer Richtung. Unbekannt war bisher, wie und wann diese Asymmetrien entstehen. Neurobiolog/innen ist es nun erstmals gelungen, die Entwicklung von Asymmetrien in der Netzhaut im Detail zu beschreiben.
«Dass Gehirn und Netzhaut asymmetrisch angelegt sind, ist bereits seit einem halben Jahrhundert bekannt. Doch erst vor etwa drei Jahren haben neue Technologien es ermöglicht, detaillierte Einblicke in die Abläufe während der Entwicklung zu gewinnen», kommentierte Botond Roska, Forscher am Friedrich Miescher Institut FMI. So konnte aufgezeigt werden, dass in der Netzhaut identische Starburst-Amakrinzellen rund um eine Ganglienzelle angeordnet sind – etwa so, wie Kinder in einem Kreis um die Lehrerin herum sitzen. Die FMI-Wissenschaftler/innen konnten nachweisen, dass die Amakrinzellen in der ersten Lebensphase mit der Ganglienzelle verknüpft sind und so Signale aussenden können, auf welche die Ganglienzelle reagiert. Es ist, um bei dem obigen Bild zu bleiben, als ob alle Kinder gleichzeitig mit der Lehrperson in ihrer Mitte sprechen und diese allen zuhören würde. Doch dann ändert sich relativ abrupt das Verhalten: Die Ganglienzelle reagiert nur noch auf die Amakrinzellen auf der einen Seite und ignoriert die auf der anderen.
Bei Mäusen findet diese Umschaltung zwischen dem sechsten und dem achten Lebenstag statt – zu einem Zeitpunkt also, an dem ihre Augen noch geschlossen sind. Bekannt ist, dass die Umschaltung selektiv für hemmende statt für erregende Synapsensignale erfolgt. Die genauen molekularen Vorgänge müssen jedoch erst noch entschlüsselt werden.
«Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Asymmetrie nicht von Anfang an besteht. Der Schaltkreis ist zunächst symmetrisch angelegt und erst ein ‹Umschaltsignal› bewirkt den Übergang in den asymmetrischen Endzustand", so Roska. «Wie dieser Prozess auf Molekülebene gesteuert wird, muss erst noch erforscht werden.»