Die Evolution spielt eine entscheidende Rolle bei Ökosystemen, die aus dem Gleichgewicht kippen. Das zeigen zwei kürzlich von Forschenden der Eawag veröffentlichte Studien. Wird dies berücksichtigt, lassen sich Zusammenbrüche von Ökosystemen in Zukunft besser vorhersagen. Darüber hinaus zeigen die Studien, wie das Risiko für das Kippen von Ökosystemen reduziert und die Chancen einer Erholung erhöht werden können.
Flache Seen können trotz steigender Nährstoffeinträge jahrelang klar und von Makrophyten (bewurzelten Wasserpflanzen) dominiert bleiben, dann aber plötzlich ihre Makrophyten verlieren und trübe werden. Dieser Zusammenbruch oder abrupte Übergang zu einem völlig anderen Zustand des Sees ist ein klassisches Beispiel für Kipp-Punkte in Ökosystemen. Kipp-Punkte sind bei einer Vielzahl von Ökosystemen dokumentiert worden, etwa bei Korallenriffen, Wüsten und Ozeanen. In diesen Ökosystemen haben Wissenschaftler abrupte Übergänge beobachtet, die negative Auswirkungen auf die darin lebenden Arten und die davon abhängigen Menschen hatten. In aquatischen Ökosystemen beispielsweise haben sich Kipp-Punkte im Zusammenbruch von Fischpopulationen gezeigt mit verheerenden sozioökonomischen Auswirkungen auf die Menschen, deren Lebensgrundlage vom Wohlergehen dieser Populationen abhängt. Eines der grössten Probleme ist, dass ein einmal eingetretener Übergang schwer rückgängig gemacht werden kann, auch wenn Stressfaktoren, wie der Nährstoffeintrag in flache Seen, beseitigt werden. Daher haben Forscher intensiv daran gearbeitet, derartige Übergänge vorhersagen und verhindern zu können.
Obwohl Ökologen bereits untersucht haben, wie menschengemachte Umweltveränderungen zu evolutionären Veränderungen in Ökosystemen führen, wussten die Forschenden bislang nicht, wie evolutionäre Prozesse die Kipp-Punkte von Ökosystemen beeinflussen. In zwei aktuellen Studien stellten Forschende der Eawag in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern fest, dass sich die Evolution zu unseren Gunsten, aber auch zu unseren Ungunsten auswirken kann.
Eine der Studien hinterfragt die Annahme, dass Ökosysteme erst dann kippen, wenn bestimmte Punkte Überschritten werden. Die Ergebnisse zeigen, dass schnelle Umweltveränderungen, wie sie derzeit stattfinden, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs von Ökosystemen erhöhen, noch bevor Kipppunkte Überschritten werden. Wenn allerdings die Evolution den Arten hilft, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen, kann der Zusammenbruch hinausgezögert werden.
Die Evolution kann also dazu beitragen, das Kippen von Ökosystemen zu verzögern, entscheidend dafür ist allerdings, in welchem Tempo sich die Arten anpassen. Je schneller die Anpassung erfolgt, desto grösser ist die Chance, das Kippen des Ökosystems zu verhindern. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass eine schnelle Anpassung möglich ist, ist die Aufrechterhaltung einer hohen genetischen Variabilität.
Gleichwohl hat das Anpassungstempo Grenzen; wenn also die Geschwindigkeit der Umweltveränderungen höher ist als das Anpassungstempo der betroffenen Arten, sind Zusammenbrüche von Ökosystemen unvermeidlich. Daher bedarf es dringend einer Verlangsamung der Umweltveränderungen, um dieses Risiko zu verringern.
Die Evolution kann die Erholung von Ökosystemen verzögern
Ist ein Ökosystem einmal aus dem Gleichgewicht geraten, kann die Evolution dessen Erholung verzögern - so die Erkenntnisse der Forschenden im Rahmen der zweiten Studie. Würden allein Umweltprozesse eine Rolle spielen, müsste ein gekipptes Ökosystem in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehren, sobald der auslösende Umweltstress unter den Kipp-Punkt gesenkt wird, der für eine Erholung notwendig ist (Abbildung 2). Wird beispielsweise die Nährstoffkonzentration in einem flachen See auf ein sehr niedriges Niveau gesenkt, müsste der See rasch wieder zu seinem von Makrophyten dominierten Klarwasserzustand zurückkehren. Dies ist jedoch möglicherweise nicht der Fall, wenn sich die Arten dank der Evolution an die Bedingungen im gekippten Ökosystem angepassen. In diesem Fall kann es lange dauern bis das Ökosystem nach Beseitigung der Stressfaktoren wieder in den Zustand vor dem Zusamenbruch zurückkehrt. Der Anpassungsprozess braucht Zeit. Das heisst, je länger das Ökosystem im gekippten Zustand verweilt, desto weiter schreitet die Anpassung voran. Um eine solche Anpassung an unerwünschte Bedingungen zu vermeiden, sollten Sanierungsmassnahmen wie die Verringerung des Nährstoffeintrags in Seen, so früh wie möglich in dem gekippten Ökosystem durchgeführt werden, um die Chancen auf eine Erholung zu erhöhen.
Chaparro-Pedraza, P. C. (2021) Fast environmental change and eco-evolutionary feedbacks can drive regime shifts in ecosystems before tipping points are crossed, Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, 288(1955), 20211192 (10 pp.), doi: 10.1098/rspb.2021.1192 , Institutional Repository