Die Graphische Sammlung der ETH Zürich hat über 50’000 Kunstwerke digitalisiert, die nun frei zugänglich sind. Linda Schädler, Leiterin der Graphischen Sammlung, erklärt im Gespräch, warum sie auch noch die anderen 110’000 Bilder erfassen möchte.
Frau Schädler, die Graphische Sammlung hat 50’000 ihrer Werke digitalisiert. Schafft sich das Museum damit nicht selber ab?
Nein, die Digitalisierung der Werke ist eine wunderbare Ergänzung zur Ausstellung, aber ganz bestimmt kein Ersatz. Wenn wir eine Ausstellung kuratieren, dann wählen wir bewusst aus. Wir machen Werke von Künstler:innen zugänglich, die sonst vielleicht unentdeckt bleiben würden und setzen Kunst in einen Kontext. So erhalten Besuchende automatisch noch mehr Informationen und stellen neue Verbindungen zwischen den Kunstwerken her. Die Digitalisierung bringt andere Vorteile.
Welche?
Bei uns ist der Träger des Kunstwerks fast immer Papier, das heisst die Werke sind sensibel. Wir können also gar nicht alle Kunstwerke dauernd ausstellen und müssen diese gut vor Licht geschützt in Boxen aufbewahren. Durch die Digitalisierung sind diese Kunstwerke auch dann sichtbar, wenn sie gerade nicht ausgestellt sind. Wir schützen sie und können den Menschen gleichzeitig vermitteln, welch grosse Schätze wir in unseren Beständen haben.
Walter Benjamin stellte fest, dass im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit die Aura des Kunstwerks verkümmere - was verliert das Kunstwerk durch die Digitalisierung?
Die Fragilität, das Papier, die verschieden Drucktechniken oder manchmal auch schlicht den Eindruck der Grösse eines Kunstwerks können Sie am Computer nur erahnen, dafür müssen Sie das Original sehen. Was übrigens Viele nicht wissen: Nach Voranmeldung kann man sich unsere Werke auch im Studiensaal im Original anschauen und sich in sie vertiefen.
Und gewinnt das Kunstwerk auch etwas?
Wir sind als Museum in einer aussergewöhnlichen Situation, weil wir Teil einer technischen Hochschule sind. Mit dem Game Technologie Center (GTC) entstand zum Beispiel eine Augmented Reality App, die den Besuchenden bei Ausstellungen unzählige Hintergrundinfos zu den einzelnen Werken liefert und gleichzeitig aktuelle ETH-Forschung präsentiert. Um diese neuen Formen der Kunstvermittlung nutzen zu können, braucht man zwingend ein Digitalisat.
Es geht also auch um Forschung?
Ja, klar! Die ETH-Bibliothek, zu der wir ja gehören, legt unter anderem deshalb so viel Wert auf die Digitalisierung, weil damit allen Forschenden rund um den Globus wichtige Quellen zugänglich gemacht werden. Unsere Werke gehören da selbstverständlich dazu. Eine Wissenschaftlerin aus Salamanca hat erst über unseren Onlinekatalog erfahren, welche Werke einer Künstlerin, zu der sie forscht, wir hier in Zürich haben. Und natürlich haben Bilder online auch ganz praktische Vorteile: So können Sie in ein Werk reinzoomen und ein Detail vielleicht besser erkennen.
Sie haben jetzt die ersten 50’000 Werke von insgesamt 160’000 digitalisiert - wie haben Sie ausgewählt?
Eine Eigenart einer graphischen Sammlung ist es, dass die Werke in erster Linie nach Grösse geordnet sind. Um die Werke zu schonen, arbeiten wir jeweils eine Box durch. Das kann bedeuten, dass wir zum Beispiel alle Kleinformate eines Künstlers aus der entsprechenden Box erfassen, seine Mittelformate aber erst später digitalisieren. Zudem haben wir Schwerpunkte bei besonders wichtigen Künstler:innen gesetzt, die immer wieder nachgefragt werden: So haben wir beispielsweise alle Werke von Giovanni Battista Piranesi online gestellt - auch wenn wir dazu verschiedene Boxen parallel öffnen mussten. Wenn wir Neuzugänge haben, dann wollen wir diese von Anfang an vollständig erfassen. Ein Beispiel dafür ist die Schenkung von Werken Bernhard Luginbühls von 2020.
Gibt es eigentlich spezielle Herausforderungen, wenn man Graphiken digitalisiert?
Bei uns haben Männer wie Frauen, die mit den Werken arbeiten, ein absolutes Nagellackverbot, um die Kunstwerke zu schützen (lacht). Nein im Ernst, die Kunstwerke sollten möglichst wenig bewegt und dem Licht ausgesetzt werden. Da es sich um wertvolle Objekte handelt, ist es für uns zudem wichtig, dass der Digitalisierungsprozess vor Ort stattfindet. Aber das ist eigentlich gar nicht der aufwändigste Teil...
Sondern?
Das Bestimmen und Erfassen der Metadaten. Von der Grösse und Technik bis zu allfälligen Bezeichnungen oder Stempeln - alles muss exakt erfasst und nochmals kontrolliert werden. Auf eine Person, die das Werk digitalisiert, kommen weitere vier, welche die ganzen Daten erheben. Aber der grosse Aufwand lohnt sich für das Museum, denn durch die Digitalisierung wird das Sammlungsmanagement ebenfalls deutlich einfacher.
Kunst zu digitalisieren, ist ein aufwändiger Prozess und deshalb mit hohen Kosten verbunden. Wer finanziert das bei der Graphischen Sammlung?
Die ETH-Bibliothek finanziert die Hälfte des Projekts, für die andere Hälfte wurden wir zusammen mit der ETH Foundation glücklicherweise bei der Ernst Göhner Stiftung und der Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung fündig. Es ist nicht einfach, Donator:innen zu finden, die Digitalisierungsprojekte unterstützen, obwohl es ein wichtiger Teil heutiger Museumsarbeit ist.
50’000 ist eine enorme hohe Zahl. Die Graphische Sammlung verfügt aber noch über einen riesigen Bestand - wie geht es weiter?
Rund ein Drittel unseres Bestands ist inzwischen erfasst. Das ist im Vergleich zu anderen Museen sowohl anteilsmässig wie auch in absoluten Zahlen eine sehr hohe Zahl. Jetzt auf halbem Weg stehen zu bleiben, ist für mich keine Option. Deshalb suchen wir für das mehrjährige Projekt zusätzliche Partner:innen und Gönner:innen. Wenn wir im Jahr wie geplant ungefähr 12’000 Werke erfassen und online stellen, dann haben wir zirka 2031 die ganze Sammlung digitalisiert. Das ist wichtig, denn ich bin davon Überzeugt, dass die museale Zukunft auch eine digitale ist.
Der Sammlungskatalog Online
Der Sammlungskatalog Online mit den über 50’000 digitalisierten Werken der Graphischen Sammlung ist frei zugänglich.
Inzwischen sind fast alle Werke etwa von Albrecht Dürer, Rembrandt oder Pablo Picasso online verfügbar. Ebenso können sich Interessierte Neuzugänge, beispielsweise die umfangreiche Schenkung von Zeichnungen des Luzerner Künstlers Max von Moos (1903-1979), online ansehen. Das Projekt läuft weiter, und es werden stetig weitere Kunstwerke digitalisiert.