Wie man aus einem Tentakel einen Fuß macht

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Hydra, bei der die Menge an Zic4 reduziert wurde. Die roten Pfeilköpfe zeigen diHydra, bei der die Menge an Zic4 reduziert wurde. Die roten Pfeilköpfe zeigen die zu Füßen umgewandelten Tentakel, das Sternchen zeigt den Mund des Tieres an © CC-BY-NC

Einem Team der Universität Genf und des IWF ist es durch die Identifizierung eines Schlüsselregulators für die zelluläre Identität gelungen, die Struktur und Funktion von Tentakelzellen bei Hydra zu verändern.

Menschen, Tiere, Pflanzen: Alle mehrzelligen Organismen bestehen aus spezialisierten, sogenannten differenzierten Zellen. So haben die Zellen, aus denen die Epidermis besteht, nicht die gleiche Identität und Funktion wie die Zellen, die beispielsweise das Verdauungssystem auskleiden. Die Mechanismen, die es diesen Zellen ermöglichen, ihre Identität zu bewahren, sind jedoch noch weitgehend unbekannt. Ein Team der Universität Genf hat in Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Miescher-Institut für biomedizinische Forschung (FMI) in Basel bei der Arbeit an der Hydra einen der wichtigsten Regulatoren entdeckt: den Transkriptionsfaktor Zic4. Nachdem die Forscher dessen Expression reduziert hatten, stellten sie fest, dass die Tentakelzellen der Hydra ihre Identität änderten und sich in Fußzellen verwandelten, wodurch im Kopf des Tieres funktionstüchtige Füße gebildet wurden. Diese Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Science Advances zu finden.

Wenn sich ein lebender Organismus entwickelt, teilen sich seine Stammzellen und es entstehen nach und nach neue Zellen, die eine oder mehrere besondere Funktionen erfüllen können. Dieser Prozess der Zellspezialisierung wird als Differenzierung bezeichnet. So werden sich die Zellen, aus denen die Hautoberfläche besteht, morphologisch und physiologisch von den Zellen unterscheiden, die beispielsweise das Verdauungsgewebe oder das Nervensystem bilden. In sehr seltenen Fällen können einige bereits differenzierte Zellen im Laufe ihrer Existenz noch ihre Struktur und Funktion - und damit ihre Identität - verändern. In diesem Fall spricht man von Transdifferenzierung.

Während die Mechanismen der Differenzierung bekannt sind, bleiben die Mechanismen, die es der spezialisierten Zelle ermöglichen, ihre Identität zu bewahren - und somit ihre Dedifferenzierung (Identitätsverlust) oder Transdifferenzierung (Identitätswechsel) zu verhindern - rätselhaft. Um sie zu untersuchen, sind Arten, die ihre Organe, Gliedmaßen oder ihren ganzen Körper regenerieren, bevorzugte Modelle. Innerhalb dieser Organismen verlieren einige Zellen vorübergehend ihre Identität, bevor sie sich erneuern und eine neue Funktion übernehmen. Dies gilt insbesondere für die Süßwasserhydra, ein kleines wirbelloses Tier mit einer durchschnittlichen Größe von 1,5 cm, das in der Lage ist, jeden amputierten Körperteil im Laufe seines Lebens zu regenerieren.

Schlüsselregulator identifiziert

Anhand dieses Tiermodells haben Forscher der Universität Genf in Zusammenarbeit mit dem Friedrich Miescher Institut für biomedizinische Forschung (FMI) in Basel einen Schlüsselregulator für die Aufrechterhaltung der zellulären Identität identifiziert: den Transkriptionsfaktor Zic4, ein Protein, das in den Zellkernen von Hydrazellen lokalisiert ist und die Expression einer Reihe von Zielgenen reguliert. Wir zeigen genauer, dass Zic4 eine entscheidende Rolle bei der Bildung und Erhaltung der Zellen spielt, aus denen die Tentakel bestehen, und dass durch die Verringerung seiner Expression die Organisation und Funktion dieser Zellen verändert werden kann’.Matthias Christian Vogg, Oberassistent am Departement für Genetik und Evolution der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät und am Institut für Genetik und Genomik (iGE3) der Universität Genf sowie Erstautor der Studie, erläutert: "Die Studie zeigt, dass Zic4 in der Lage ist, die Entwicklung von Zellen zu beschleunigen, die sich in der Natur befinden.

Durch die Halbierung des Expressionsniveaus von Zic4 fanden die Wissenschaftler heraus, dass sich die Epithelzellen der äußeren Schicht der Tentakel in Epithelzellen des Fußes umwandelten. ’Als Fuß bezeichnet man die Basalscheibe der Hydra. Die Zellen, aus denen sie besteht, sind hochspezialisiert: Sie scheiden Schleim aus, mit dem sich das Tier an die Umgebung anheften kann. Nach der Reduktion von Zic4 dauerte es nur wenige Tage, bis der Prozess der Transdifferenzierung der Tentakelzellen einsetzte und sich anstelle der Tentakel Füße entwickelten’, sagt Brigitte Galliot, Honorarprofessorin am Departement für Genetik und Evolution der naturwissenschaftlichen Fakultät und am iGE3 der Universität Genf, die die Studie betreut hat.

Eine Rückkehr in die Wiege

Die Wissenschaftler fanden außerdem heraus, dass transdifferenzierte Zellen zuvor in den Zellzyklus zurückkehren, ohne sich zu teilen. Sie verlieren dann ihre erste Identität. Diese Zellen reaktivieren den Prozess der DNA-Synthese und damit der Chromosomenverdopplung, der bei der Zellproliferation abläuft, ohne dass es zu einer mitotischen Teilung kommt", erklärt Charisios Tsiairis, Juniorchef des IWF und Co-Letztautor der Studie.

Um die Expression des Zic4-Gens zu reduzieren, wurden Moleküle, die seine Expression hemmen, in die Epidermis des Tieres ’elektroportiert’. Dann haben wir durch Doppelmarkierung sowohl einen Marker für Tentakelzellen als auch einen Marker für Fußzellen in denselben Zellen nachgewiesen, was beweist, dass diese Zellen transdifferenzieren, da sie ein Stadium durchlaufen, in dem sie noch ein wenig Tentakel und schon ein wenig Fuß sind. Diese Übergangsphase ist die Signatur des Transdifferenzierungsprozesses’, erklärt Chrystelle Perruchoud, Forschungsassistentin am Departement für Genetik und Evolution der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät und am iGE3 der Universität Genf.

Diese Ergebnisse liefern neue Schlüssel zum Verständnis der Transdifferenzierung. Sie könnten den Weg für neue Therapien ebnen, die auf die Regeneration bestimmter defekter Zelltypen beim Menschen abzielen. Bisher sind noch viele Fragen offen: "Spielt Zic4 auch bei anderen Tieren die gleiche Rolle? Könnte eine weitere Verringerung der Expression von Zic4 dazu führen, dass andere Zelltypen entstehen? Außerdem gibt es wahrscheinlich noch andere wichtige Regulatoren der Transdifferenzierung, die noch entdeckt werden müssen", schließt Brigitte Galliot.

5. Jan. 2023