Ein Team der Universität Genf und der HEP Vaud hat ein innovatives Verfahren entwickelt, um die Ausübung von pädagogischer Autorität zu analysieren und ihre Wirksamkeit zu bewerten.
Wie wird Autorität im Klassenzimmer ausgeübt? Ein Team der Universität Genf und der Pädagogischen Hochschule des Kantons Waadt (HEP Vaud) hat eine der ersten umfassenden Feldstudien zu dieser Frage durchgeführt. Die Forscherinnen haben mehrere Monate lang Lehrkräfte in der Ausbildung gefilmt, um verschiedene Formen der Ausübung pädagogischer Autorität zu identifizieren und ihre Wirksamkeit zu bewerten. Es zeigte sich, dass Strategien, die auf doppelter Adressierung basieren, d.h. die gleichzeitige Ansprache von mehreren Schülern oder Schülergruppen über zwei verschiedene Kommunikationskanäle, besonders effektiv sind. Die Ergebnisse sind in der Zeitschrift Teaching and Teacher Education zu finden.Die Autorität der Lehrkräfte im Klassenzimmer wird von den Schülern nicht mehr von vornherein akzeptiert. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels hat die traditionelle Ausübung von Autorität, die vor allem auf Drohungen, Zwang oder Gewohnheit beruht, an Legitimität verloren. Um die Zustimmung ihrer Schülerinnen und Schüler zu erhalten, müssen sich die Lehrerinnen und Lehrer an diesen neuen Kontext anpassen und ihre Autorität im Alltag je nach Klasse und Lernsituation aufbauen. Neue Haltungen müssen erfunden werden, um sowohl neuen als auch erfahrenen Lehrern zu ermöglichen, die Zustimmung der Schüler zu erhalten.
Bisher gibt es nur wenige Studien, die die Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern in Autoritätssituationen dokumentieren. Um dies zu ändern, setzte ein Team der Universität Genf und der PH Waadt in 24 Waadtländer Sekundarschulklassen (insgesamt 433 Schülerinnen und Schüler im Alter von 12 bis 15 Jahren) ein innovatives Videosystem ein und koppelte es mit Interviews, die die beruflichen Erfahrungen der Lehrkräfte (insgesamt 10 Lehrkräfte, die sich in der Ausbildung befanden) aufzeigten. Die Erhebung dauerte ein halbes Jahr.
Innovative Vorrichtung
Wir installierten in jeder Klasse eine freistehende Weitwinkelkamera, um sowohl die Lehrkraft als auch die Schülerinnen und Schüler im Blick zu haben. Die Lehrkräfte trugen einen Sender um den Hals, mit dem die Kamera ihre Bewegungen innerhalb der Klasse verfolgen konnte’, erklärt Valérie Lussi Borer, assoziierte Professorin, Leiterin der AFORDENS-Gruppe und Mitglied der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Genf, die diese Arbeit leitete.
Am Ende des Unterrichts sollten die Lehrer/innen angeben, welche Autoritätssituationen an diesem Tag am wichtigsten waren und welche Ziele sie dabei verfolgten. Die entsprechenden Passagen wurden dann mit ihnen zusammen angeschaut, um sie mit diesen Episoden zu "konfrontieren" und die Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und der Realität zu messen. Diese Methode ermöglichte es, verschiedene Modalitäten der Autoritätsausübung zu identifizieren und ihre Wirksamkeit zu messen.
Die effektivste Strategie
Unter den verschiedenen Modalitäten der Schüler-Lehrer-Interaktion, die wir identifiziert haben, ist die sogenannte ’’doppelte Adressierung’’ am effektivsten.Sie macht ein Drittel der gefilmten Interaktionen aus’, erklärt Vanessa Joinel Alvarez, assoziierte Professorin an der Lehr- und Forschungseinheit AGIRS der HEP Vaud und Erstautorin der Studie.
Bei der doppelten Adressierung können Lehrerinnen und Lehrer eine direkte und eine indirekte Adressierung kombinieren, indem sie sich an eine Schülerin oder einen Schüler wenden, um dem Rest der Gruppe eine Nachricht zu übermitteln, oder indem sie sich an die Gruppe wenden, um einer Schülerin oder einem Schüler eine Nachricht zu übermitteln. Der scheinbare Adressat ist nicht der tatsächliche Adressat: Die Lehrkraft versucht, Informationen indirekt an einen oder mehrere andere Schüler weiterzugeben.
Machtverhältnisse einschränken
Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Lehrerinnen und Lehrer, um zu verhindern, dass ein störendes Verhalten auf den Rest der Gruppe übergreift, auffällig auf den unruhigen Schüler einwirken, um indirekt eine abschreckende Botschaft an die Gruppe zu übermitteln. Die Forscherinnen haben auch Situationen aufgezeigt, in denen sich die Lehrkraft direkt an die ganze Klasse und indirekt an einen oder zwei Schüler wendet, um ihnen eine Botschaft zu übermitteln, ohne sie explizit zu nennen, um sie nicht zu stigmatisieren und den sozialen Vergleich zwischen den Schülern nicht zu verstärken.
Wir stellen fest, dass diese Strategie sehr effektiv ist, um störendem Verhalten vorzubeugen. Sie ermöglicht es den Lehrkräften, die Konfrontation zu begrenzen, die bei Jugendlichen wenig erfolgreich ist", erklärt Vanessa Joinel Alvarez. Indem die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler nicht direkt konfrontieren, vermeiden sie ein Machtgefälle und ermöglichen es ihnen, vor ihren Mitschülern das Gesicht zu wahren.
Die Ergebnisse dieser Forschung sind bereits in neue Weiterbildungen für Lehrpersonen eingeflossen, wie das Module d’approfondissement professionnel ’Gestion efficace et bienveillante des comportements en classe’ an der HEP Vaud und das Certificat d’études avancées ’Enseigner en situation complexe au secondaire’ am Institut universitaire de formation des enseignant-es der Universität Genf. Diese Ausbildungen bieten Lehrkräften Werkzeuge an, um besser zu verstehen, wie sie im Unterricht mit den Schülerinnen und Schülern umgehen und wie sich diese Interaktionen auf das Klassenklima auswirken.
19. Sept. 2023