Ein Team der Universität Genf hat die genetischen Programme entdeckt, die es den Motoneuronen ermöglichen, sich aus dem Rückenmark zurückzuziehen. Diese Entdeckung eröffnet neue Möglichkeiten zur Bekämpfung der Neurodegeneration.
Der motorische Kortex besteht aus Neuronen, die für die Muskelkontraktion verantwortlich sind. Diese besitzen Zellfortsätze, die als Axone bezeichnet werden und sich von der Hirnrinde bis ins Rückenmark projizieren. Während der Gehirnentwicklung können sie sich in andere Arten von Neuronen verwandeln, deren Projektionen nicht in das Rückenmark, sondern in das Gehirn reichen. Wie läuft dieser Prozess ab? Neurowissenschaftler der Universität Genf haben herausgefunden, dass alles auf genetische Programme zurückzuführen ist. Unsere Gene entscheiden, welche Teile der Großhirnrinde für unsere motorischen Funktionen zuständig sind, indem sie die neuronalen Projektionen steuern. Diese grundlegende Entdeckung, die in der Zeitschrift Naturezu lesen ist, eröffnet neue Perspektiven, um motorischen Störungen entgegenzuwirken.
Die Großhirnrinde ist der äußere Teil des Gehirns, der für die höheren kognitiven Funktionen wie Denken, Wahrnehmung, Entscheidungsfindung, Sprache und Gedächtnis zuständig ist. Außerdem verarbeitet sie sensorische Informationen und steuert Bewegungen. Zu diesem Zweck widmet sie einen Teil ihres Volumens der Bewegung: den motorischen Kortex. Von hier aus projizieren die für die Muskelkontraktion verantwortlichen Neuronen - die kortiko-spinalen Neuronen - in das Rückenmark. Trotz der Kompartimentierung des Kortex finden sich kortikospinale Neuronen jedoch auch außerhalb des motorischen Kortex. Warum ist das so?
Selektion während der Entwicklung
Um diese Frage zu beantworten, haben sich die Neurowissenschaftler an Mäuse gewandt. Die uns derzeit zur Verfügung stehenden Technologien erlauben es uns nicht, diese Fragen beim Menschen zu untersuchen. Außerdem sind die kortikospinalen Neuronen über die Arten hinweg sehr konserviert und können daher an Nagetieren untersucht werden’, sagt Denis Jabaudon, ordentlicher Professor an der Abteilung für grundlegende Neurowissenschaften der Medizinischen Fakultät der Universität Genf und Initiator der Studie.
Mithilfe von Ansätzen, bei denen das Gehirngewebe transparent gemacht und ein bestimmter Neuronentyp spezifisch gefärbt wird, untersuchte das Forschungsteam zunächst die Entwicklung der kortiko-spinalen Projektionen im Laufe der Gehirnentwicklung. ’Wir haben damit eine faszinierende Beobachtung bestätigt, die wir schon vor Jahrzehnten gemacht haben, die den Neurowissenschaftlern aber noch wenig bekannt war’, sagt Denis Jabaudon.
Zu Beginn der Hirnentwicklung projizieren die Neuronen der Hirnrinde in das Rückenmark. Diejenigen, die den späteren motorischen Kortex bilden, bleiben dort, während sich diejenigen, die den Rest des Kortex bilden, allmählich zurückziehen. Letztendlich bleiben in einem erwachsenen Gehirn kortikospinale Neuronen übrig, die weit bis ins Rückenmark hinein wirken können, und andere, die weniger tief reichen und im Gehirn verbleiben.
Ein eigenes genetisches Programm
Das Team um Denis Jabaudon verglich dann die Gene, die von diesen beiden Neuronentypen exprimiert werden, und identifizierte eine Genfamilie, die für die Fähigkeit der Neuronen, sich zurückzuziehen, verantwortlich ist. ’Ohne sie würden unsere kortikalen Neuronen im Rückenmark verankert bleiben und unsere Hirnrinde wäre wahrscheinlich ihrer höheren kognitiven Funktionen beraubt’, erklärt Denis Jabaudon.
Um die Bedeutung dieses genetischen Programms zu demonstrieren, konzentrierten sich die Forscher und Forscherinnen auf drei seiner Gene und konnten mit Hilfe von Gen-Editierungstechniken wie CRISPR-Cas9 deren Expression in Neuronen mit Projektionen ins Rückenmark modulieren. Dies war eine große technische Herausforderung und eine neue Art, den Einfluss einer Reihe von Genen zu bewerten’, freut sich Denis Jabaudon. So war es möglich, den Rückzug der Neuronen aus dem Rückenmark bis ins Gehirn zu erzwingen.
Besseres Verständnis der Feinmotorik
Es ist wichtig zu verstehen, wie kortikospinale Neuronen während der Entwicklung entstehen und wie sie in unser zentrales Nervensystem projizieren, da sie für die Feinmotorik von entscheidender Bedeutung sind. Sie sind jedoch sehr anfällig für Rückenmarksverletzungen oder auch für Schäden durch die amyotrophe Lateralsklerose, eine Krankheit, die zu progressiven Lähmungen führt’, sagt Denis Jabaudon. In dieser Studie ist es uns gelungen, das Zurückziehen der Neuronen zu erzwingen. Aber alles deutet darauf hin, dass auch das Gegenteil möglich ist, was faszinierende Möglichkeiten eröffnet", fügt er hinzu. Das Forschungsteam erwägt nun, neuronale Zellen auch in anderen Zusammenhängen zu reprogrammieren, z. B. bei neurodegenerativen Erkrankungen.