Der zweite Bericht des europäischen Forschungsprojekts RESIST zeigt, dass in allen untersuchten Fällen, auch in als «fortschrittlich» wahrgenommenen Gesellschaften, Feminist_innen und LGBTIQ+-Personen verbalen und physischen Angriffen, Sachbeschädigungen und systemischer Diskriminierung ausgesetzt sind, häufig im öffentlichen Raum und in sozialen Netzwerken. Diese Gewalt trägt zu ihrer Marginalisierung bei. Anti-Gender-Diskurse und -Mobilisierungen werden daher zunehmend institutionalisiert und durch polarisierende Medienund Politikdiskurse verstärkt. Die Schweiz ist hiervon nicht ausgenommen.
Das Team des europäischen Forschungsprojekts RESIST, an dem die Universitäten Freiburg und Lausanne beteiligt sind, hat einen Bericht veröffentlicht, der die Auswirkungen von Anti-Gender-Diskursen, -Politik und -Mobilisierungen in Europa analysiert. Der Bericht basiert auf neun Fallstudien aus Deutschland, Belarus, Spanien, Frankreich, Griechenland, Irland, Polen, der Schweiz und Personen im Exil.
Im Rahmen der Studie wurden etwa 30 Personen aus jedem Land/jedem Fall über die Auswirkungen und Erfahrungen mit Anti-Gender-Diskursen, -Politik und -Gewalt in ihrem täglichen Leben und in ihrem Berufsleben befragt. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Gewalt nicht vor öffentlichen Diskursen Halt macht, sondern, wie eine Schweizer Teilnehmerin es ausdrückte, in das tägliche Leben und die sozialen Beziehungen «rieselt». Dies führt dazu, dass die Erwartung von Gewalt zunimmt, was zu Stress und Not führt.
Die Schweiz bleibt nicht verschont
Für die Schweiz zeigt die von Ekaterina Filep von der Universität Freiburg und Gaé Colussi von der Universität Lausanne durchgeführte Studie, dass die jüngsten Fortschritte in der Gesetzgebung (Ausweitung der Antidiskriminierungs-Strafnorm auf die sexuelle Orientierung, Ehe für alle) von einem Fortbestehen oder sogar einer Zunahme der Anti-Gender-Diskurse begleitet wurden, die in der Politik, den Medien und der Gesellschaft weit über die extreme Rechte und konservativ-religiöse Bewegungen hinaus verbreitet sind.Diese feindselige Rhetorik bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Zunahme von böswilligen Handlungen gegen LGBTIQ+-Veranstaltungen (Drohungen gegen Prides, Störung der Drag Story Time durch rechtsextreme Gruppen usw.). Darüber hinaus tragen diese geschlechterfeindlichen Rhetoriken und Politiken zu einer Verunsicherung der Betroffenen bei, sowohl im Alltag als auch im Berufsleben. «Die Studie zeigt erneut, dass Reden, insbesondere wenn sie von prominenten Personen des öffentlichen Lebens gehalten werden, eine echte Wirkung haben und den Weg für spätere feindselige Verhaltensweisen ebnen», betont Ekaterina Filep.
Auswirkungen auf die Zielpersonen
So bezeugten viele der Befragten, dass verbale Belästigungen und Drohungen im Internet weit verbreitet sind, und es wurde auch von Fällen körperlicher Gewalt berichtet. Dies führt dazu, dass viele Aktivist_innen und Gleichstellungsfachleute Selbstzensur üben und erhöhte Sicherheitsmassnahmen anwenden, wenn sie an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen oder solche organisieren. Die erlebte Feindseligkeit erhöht die Belastung für die Gleichstellungsbeauftragten noch weiter und führt zu Erschöpfung und Not. «Viele der Befragten erzählten uns von der zusätzlichen Belastung, die diese Bewegungen und Diskurse für Einzelpersonen und Organisationen mit sich bringen. Das Risiko, bei jedem Öffnen der Mailbox oder der sozialen Netzwerke mit einer Flut von Hass konfrontiert zu werden, ist natürlich gross. Die Menschen treffen doppelte Vorsichtsmassnahmen, um sich so gut wie möglich davor zu schützen», sagte Ekaterina Filep.Dieser Effekt ist in allen untersuchten europäischen Ländern zu beobachten. Somit haben Anti-Gender-Mobilisierungen erhebliche Auswirkungen auf die Zielpersonen oder -gruppen. Dies schliesst auch negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit ein. Mehrere Personen berichteten von ihrem Gefühl der Verletzlichkeit und den Auswirkungen auf ihr tägliches Leben wie Angst, Erschöpfung und Unruhe. Diese Auswirkungen sind besonders schwerwiegend für Personen, deren marginalisierte Identitäten sich Überschneiden und die mit anderen Formen von Diskriminierung konfrontiert sind.