Madagaskar ist die Heimat von über 11’000 Pflanzenarten, von denen 80 Prozent nirgendwo sonst auf der Erde vorkommen. Warum das so ist, war bis jetzt ein Rätsel der Naturgeschichte. Eine aktuelle Studie der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und der ETH Zürich hat nun eine mögliche Ursache gefunden.
Madagaskar ist ein Artenparadies. Eine Studie der WSL und der ETH Zürich zeigt nun, dass Landschaftsveränderungen, etwa durch ungleichmässige Niederschläge und Gesteinserosion, eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Entwicklung neuer Arten spielen: «Die Niederschläge auf der Ostseite der Insel führen dazu, dass sich die Landschaft über Millionen von Jahren dramatisch veränderte, da sich der alte und gebirgige Steilhang durch die Erosion ins Landesinnere bewegt», sagt Yi Liu, WSL-Forscher und Erstautor der Studie. Der Steilhang bildete sich während des Auseinanderbrechens des Urkontinents Pangea. Durch Erosion entstehen seither fortlaufend neue Flussnetze und Täler. Diese schaffen und unterteilen Lebensräume und sorgen für topografische Barrieren. Der kontinuierliche Prozess der Isolierung und Wiedervernetzung von Lebensräumen beschleunigt gemäss Liu das Auftreten neuer Arten, die sich an die veränderten Lebensraummuster anpassen.
Ebenfalls federführend an der Studie beteiligt war Loïc Pellissier, Professor für Ökosystemund Landschaftsevolution an der WSL und der ETH Zürich. Er sagt: «Als eine der Hauptursachen für eine hohe Artenvielfalt gilt die Verschiebung tektonischer Platten und die daraus resultierende Bildung einer komplexen Topografie. Madagaskar passte jedoch nie gut in diese Hypothese, da die tektonische Aktivität in den letzten 100 Millionen Jahren minimal war.» Die Untersuchungen zeigten nun, dass eine komplexe Topografie auch noch lange nach dem Ende der tektonischen Aktivität bestehen und sich weiterentwickeln könne.
Die Studie, die in der renommierten Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, vereint jahrelange Arbeit von Biologen und Geologinnen. Dafür haben die Forschenden Prozesse und Daten in ein Computermodell integriert. «Die interdisziplinäre Zusammenarbeit war für das Projekt von entscheidender Bedeutung», sagt Sean Willett, einer der beteiligten Co-Autoren des Departements Erdwissenschaften der ETH. Das Modell kombiniert Rekonstruktionen der Landschaft und der Lebensräume von vor 45 Millionen Jahren bis heute mit einem umfassenden Datensatz mit rund 9000 Pflanzen, die heute auf der Insel vorkommen. Die Ergebnisse des Computermodells hätten gezeigt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Lebensräume und der Entstehung endemischer Arten gäbe, also Arten, die es nur auf Madagaskar gibt.
Gemäss den Forschenden geht es jetzt darum, die neuen Erkenntnisse an anderen Orten mit hoher endemischer Artenvielfalt zu Überprüfen. Die neue Theorie wird bereits vom gleichen Team wie in Madagaskar in Studien in den Bergen Kolumbiens und im Südwesten Chinas getestet. «Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass Landschaftsveränderungen durch Erosion auch in diesen Regionen eine entscheidende Rolle für die hohe endemische Artenvielfalt spielen», sagt Pellissier.
So sehr sich Yi und Pellissier über die Erkenntnisse zur Entstehung endemischer Arten freuen, so sehr machen sie sich auch Sorgen um die Zukunft. Durch die Abholzung der Wälder und den Klimawandel sei die einzigartige Flora und Fauna von Madagaskar stark gefährdet. «Unsere Forschung zeigt, dass die Landschaftsevolution Millionen von Jahre gebraucht hat, um neue Lebensräume und damit neue Arten zu schaffen», betont Pellissier. «Der Mensch ist dabei, die Artenvielfalt innerhalb weniger Jahrzehnte durch massive Eingriffe in das Klima und die Zerstörung natürlicher Lebensräume zu vernichten.»
Erosion begünstigt Artenvielfalt
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