Ein Team der Universität Genf zeigt, dass eine zu starke oder zu schwache Vernetzung zwischen bestimmten Hirnarealen ein Marker sein könnte, der die Krankheit vorhersagt.
Wie kann man das Risiko einer Person, an einer Psychose zu erkranken, einschätzen? In der Psychiatrie ist die Identifizierung von prädiktiven Markern eine wichtige Forschungsaufgabe. Anhand einer Kohorte von Patienten mit der Mikrodeletion des Gens 22q11.2DS - einer Anomalie, die psychotische Störungen begünstigt - hat ein Team der Universität Genf im Rahmen des Synapsy-Zentrums für neurowissenschaftliche Forschung im Bereich der psychischen Gesundheit gezeigt, dass diese Personen eine "Kopplung" zwischen der Struktur und der Aktivität ihrer Gehirnareale aufweisen, die ihnen eigen ist. Bestimmte Regionen ihres Gehirns hätten im Laufe ihrer Entwicklung ihre optimale Kohärenz verloren. Sie seien daher zu stark oder zu wenig "gekoppelt". Diese Besonderheit ebnet den Weg für die Identifizierung zuverlässiger Risikomarker. Die Ergebnisse werden in Biological Psychiatry: Cognitive Neuroscience and Neuroimaging veröffentlicht.
Die Mikrodeletion des Gens 22q11.2DS ist die häufigste genetische Deletion. Sie betrifft einen von 2000 Menschen und bedeutet, dass eine kleine DNA-Sequenz auf dem Chromosom 22 fehlt. Sie kann zu Herzfehlern und Fehlfunktionen des Immunsystems führen. Bei 35 % der Betroffenen kommt es im Jugend- oder Erwachsenenalter zu psychotischen Störungen.
An der Universität Genf verfolgt das Team von Stéphan Eliez, Professor am Departement für Psychiatrie und am Synapsy-Zentrum für neurowissenschaftliche Forschung im Bereich psychische Gesundheit der Medizinischen Fakultät, seit 20 Jahren eine Kohorte von 300 Personen im Alter von 5 bis 34 Jahren, die von dieser Mikrodeletion betroffen sind und von denen fast 40% eine Psychose entwickelt haben. Aufgrund ihrer Größe und Langlebigkeit ist die Genfer Kohorte eine weltweit einzigartige Fallstudie. Sie hat die Veröffentlichung zahlreicher Arbeiten ermöglicht.
Atypische Gehirnentwicklung schon in der Kindheit
In einer neuen Studie untersuchte das Team der Universität Genf, wie sich die ’’Kopplung’’ der Hirnregionen bei den Mitgliedern dieser Kohorte von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter entwickelt hat. Unsere kognitiven Prozesse sind das Ergebnis von Interaktionen - ’’Kopplungen’’ - zwischen unseren verschiedenen Gehirnregionen", erklärt Silas Forrer, Doktorand im Team von Stephan Eliez und Erstautor der Studie. ’Wir wollten herausfinden, ob bei Personen mit der Mikrodeletion des Gens 22q11.2DS eine weniger effiziente Kopplung mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Psychose einhergeht.’
"Patientinnen und Patienten mit einer Mikrodeletion wiesen im gesamten Gehirn Bereiche mit Hyper- und Hypokopplung auf."
Diese ’Synchronisation’ des Gehirns und insbesondere ihre Optimierung entwickelt sich während der Adoleszenz und bis ins Erwachsenenalter. Mithilfe von Magnetresonanztomographieverfahren beobachteten die Neurowissenschaftler ihre Reifung über einen Zeitraum von zwölf Jahren, sowohl innerhalb der Kohorte als auch in einer Kontrollgruppe. Wir stellten fest, dass die Patienten mit Mikrodeletion seit der Kindheit eine anhaltende Entwicklungsverzögerung aufwiesen, mit Hyper- und Hypokoppelungsregionen im gesamten Gehirn", so Silas Forrer.
Bei 22q11.2DS-Individuen, die an Schizophrenie erkrankt sind, ist diese Diskrepanz in der Adoleszenz in drei Gehirnregionen besonders ausgeprägt: im frontalen Kortex, der für die willkürliche motorische Koordination und die Sprache zuständig ist; im cingulären Kortex, der an der Schnittstelle der beiden Gehirnhälften liegt und für bestimmte Entscheidungen verantwortlich ist; und im temporalen Kortex, der somato-sensitive Funktionen ausübt. In den ersten beiden Bereichen ist eine Unterkopplung und in dem dritten eine Überkopplung zu beobachten.
Auf dem Weg zur Identifizierung zuverlässiger Marker
Die starke Korrelation zwischen der Verzögerung in der Entwicklung der Kopplung und der Mikrodeletion des Gens 22q11.2DS ist ein bedeutender Fortschritt auf dem Weg zur Identifizierung von Markern, die die Krankheit vorhersagen. Der nächste Schritt wird sein, sich zu fragen, wie diese Kopplungen einen individuellen ’’Fingerabdruck’’ des Gehirns bilden können, der es ermöglicht, klar zu erkennen, ob eine Person ein höheres Risiko als eine andere hat, eine Psychose zu entwickeln, oder im Gegenteil davor geschützt ist", erklärt Stephan Eliez, der die Studie leitete.
Diese vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützte Studie stellt auch eine methodische Neuheit dar, indem sie Beobachtungen sowohl der Struktur (Morphologie) als auch der Funktion (Effizienz) des Gehirns kombiniert, um den Entwicklungspfad einer Population im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen zu bewerten.
22. Jul. 2024