Den Tunnelblick der Moderne Überwinden

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Mariam Issoufou will zeigen, dass viele vergessene Baukulturen auch nachhaltig w
Mariam Issoufou will zeigen, dass viele vergessene Baukulturen auch nachhaltig waren. (Bild: Aboubakar Magagi)
Mariam Issoufou gehört zu den gefragtesten Architekt:innen Afrikas. Seit 2022 ist sie an der ETH Zürich Professorin für architektonisches Erbe und Nachhaltigkeit.

Lehm gehört zu den ältesten Baumaterialien der Welt. Doch die klebrige, schmierige Mischung aus Ton und Sand wurde im Zuge der Industrialisierung an vielen Orten durch Beton verdrängt. Damit sei auch etwas verloren gegangen, sagt Mariam Issoufou, denn Lehm ist weit mehr als nur ein Baustoff, er ist Kulturträger und Überbringer jahrhundertealter Weisheiten.

Wer verstehen will, was Lehm für eine der heute gefragtesten Architekt:innen Afrikas bedeutet, muss rund 3’400 Kilometer nach Süden schauen. Nach Niger, in die Heimat von Issoufou. Dort ragt ein 27 Meter hohes Minarett in den tiefblauen Himmel über Agadez, einer Kleinstadt im Zentrum des westafrikanischen Landes. Der orangefarbene Turm gehört zur grossen Moschee und ist Teil der historischen Altstadt, die im 15. und 16.Jahrhundert entstand. Wie die meisten Gebäude der Altstadt ist auch die Moschee aus Lehm gebaut. Eine typische Bauweise in Wüstenregionen: Denn von Agadez aus ist es nicht mehr weit in die Sahara. Um die 40 Grad heiss, wird es hier von April bis September.

Mariam Issoufou ist sechs Jahre alt, als sie von der Hauptstadt des Niger in die Nähe von Agadez zieht. Fünf Jahre lang lebt sie dort mit ihrer Familie am Rande der Wüste. «Die Altstadt von Agadez mit ihren flachen Lehmhäusern, hat mir schon früh ein Gefühl für das Erbe einer afrikanischen Baukultur vermittelt, die im Westen völlig in Vergessenheit geraten ist», erinnert sich die ETH-Professorin heute.

Sensibilität für vergessene Bautraditionen

Wie Gebäude Menschen vor Hitze schützen, ist für Issoufou kein abstraktes Problem. «Auf meinem Heimweg von der Schule waren Temperaturen bis zu 45 Grad keine Seltenheit. Das Gefühl, in unser kühles Lehmhaus zu kommen, werde ich nie vergessen», sagt sie. Anders als Menschen, die im Westen aufwachsen, ist sie in einer wichtigen Phase ihrer Kindheit nicht von Häusern aus Beton oder Holz umgeben. Denn Lehm war in Niger Jahrhunderte lang das gängige Baumaterial, um Häuser gegen die Hitze zu isolieren.

«Architektur beginnt nicht erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit ein paar Göttern der modernen Architektur wie Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright.»


Diese Sensibilität für das architektonische Erbe ihrer Heimat prägt Issoufou bis heute. Zum Beispiel in ihren Lehrveranstaltungen, in denen sie ihren Studierenden vergessene Baukulturen vermittelt. Sie will zeigen, dass es Traditionen jenseits des modernistischen Mainstreams in Amerika und Europa gibt, von denen westliche Studierende einiges lernen können. Dazu müssen diese aber zunächst den architektonischen Tunnelblick der Moderne ablegen. «Architektur beginnt nicht erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit ein paar Göttern der modernen Architektur wie Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright», sagt Issoufou.

Für Issoufou ist die Dominanz des Modernismus auch dafür verantwortlich, dass Nachhaltigkeit in der Architektur lange kein Thema war. «Erst heute erkennen wir, dass viele vergessene Baukulturen auch nachhaltig waren, weil sie der Natur ohne Stahlbeton, Zentralheizung und Klimaanlage trotzen mussten.» Vor allem in der südlichen Hemisphäre gebe es Traditionen, die uns Wege aufzeigen können, wie wir mit höheren Temperaturen umgehen können. «Diese müssen wir heute wiederentdecken», sagt Issoufou.

An lokale Bautraditionen anknüpfen

Mariam Issoufou ist in Frankreich geboren, wächst aber in Niger auf. Zur Architektur kommt sie erst spät. Nach dem Schulabschluss erhält sie die Chance, in den USA zu studieren. Computer erschienen damals als der sicherste Weg in Amerika Fuss zu fassen. Daher entscheidet sie sich für ein Informatikstudium, obwohl ihr Herz damals schon für die Architektur schlägt. Sieben Jahre lang arbeitet sie als Software-Ingenieurin bis sie sich schliesslich mit über 30 dazu durchringt, an die Universität zurückzukehren und in Washington Architektur zu studieren.

Nur zehn Jahre später, ist Mariam Issoufou einer der gefragtesten Architektinnen Afrikas mit Büros in Nigers Hauptstadt Niamey, Zürich und New York. In ihren Projekten versucht sie immer wieder, lokale Bautraditionen aufzugreifen, da darin sehr viel Wissen über lokale Gegebenheiten und Probleme konserviert ist. So auch bei ihrem Entwurf für ein Zentrum für Frauen und Entwicklung in der liberianischen Hauptstadt Monrovia. Die Gebäude mit hohen, steil aufragenden Pultdächern sind von traditionellen Palava-Hütten inspiriert, deren Dächer für die starken Regenfälle in Liberia konzipiert wurden.

Mit Lehm gegen die Hitze

Schon in ihren ersten Projekten als Architektin, damals noch als Teil des Kollektivs united4design, setzt Mariam Issoufou konsequent auf den Baustoff, den sie aus ihrer Kindheit in der Wüste kennt. So baut das Architekturkollektiv 2016 in Niamey einen Wohnkomplex aus Lehm. Und auch für ein Gemeinschaftszentrum mit Bibliothek und Moschee im nigrischen Wüstendorf Dandaji verwenden Issoufou und ihre Partnerin Yasaman Esmaili Lehmziegel. Damit zeigt die Architektin, dass Lehm ein ernstzunehmender Baustoff für die moderne Architektur ist.


Die Vorteile liegen für sie auf der Hand: «Lehm kommt direkt aus dem Boden, ist voll abbaubar und ist viel billiger als Beton. Das Material hat auch sehr gute kühlende Eigenschaften und passt damit viel besser zu den klimatischen Bedingungen in Niger.» Auch bei der Wahl des passenden Baumaterials wird Issoufous Kritik an der Dominanz des Modernismus in der globalen Architektur spürbar: «Der größte Triumph von Beton ist, dass alle glauben, es sei das einzige dauerhafte Baumaterial.» Diesen kritischen Blick für lokale Gegebenheiten und vergessene Bautechniken will sie an der ETH Zürich auch an ihre Studierenden weitergeben.
Christoph Elhardt