«Ich hatte das Glück, dass ich zehn Jahre nach meiner Pensionierung noch arbeiten durfte» - Wer so etwas sagt, liebt seinen Job oder hatte eine besonders grosse Verantwortung wie Andreas Fischlin. Bis Juni 2023 war er Vizepräsident der Arbeitsgruppe II des Weltklimarates IPCC und Über 30 Jahre lang dort aktiv. Als Pionier auf seinem Gebiet modellierte er Ökosysteme, um vorauszusagen, wie sich der Klimawandel auf kleinste Lebensräume auswirkt. Endgültig Schluss macht er damit aber nicht.
Von der Musik zur Ökologie
Die Mutter bildende Künstlerin, der Vater Berufsmusiker und während des Studiums hatte er selbst noch mit dem Gedanken gespielt, Musiker zu werden. «Mit meiner damaligen Band hätten wir als Vorgruppe von Pink Floyd spielen sollen.» Für das Vordiplom legte er die Instrumente beiseite und entschied sich für die Wissenschaft. «Mir war klar, dass es Ökologie sein muss. Die Modellierung von Ökosystemen war mein Ziel.» Weil das noch nicht gab, hat er sich Professoren gesucht, die ihn unterstützt haben, und sich sein Studium aus Zoologie, Botanik, Mathematik und Systemtheorie «selbst zusammengeschustert.»Nach seiner Postdoc-Zeit in Kanada arbeitete er zur Hälfte in der Entomologie und zur anderen Hälfte in der Elektrotechnik. «Dann bekam ich einen Anruf des damaligen ETH-Abteilungsvorstehers. Mitten in den Debatten ums Waldsterben, der Umweltverschmutzung, dem sauren Regen und Tschernobyl sollten wir uns Ende der 1980er-Jahre Gedanken machen zu einem neuen Studiengang. Die damalige Abteilung X für Naturwissenschaften erteilte Dieter Imboden, Andreas Gigon, Alois Weidmann und mir den Auftrag, einen Vorschlag auszuarbeiten. Wir heckten den Studiengang Umweltnaturwissenschaften aus - und wir und die ETH wurden überrumpelt vom Erfolg!», erzählt Fischlin auf seine lebendige Art.
Von der Ökologie in die Klimapolitik
Weil er sich früh mit Klimafragen und den Auswirkungen auf Landökosysteme beschäftigt hatte, wurde Fischlin bereits 1992 zu einem koordinierender Hauptautor des IPCC-Reports. In dieser Rolle trug er auch dazu bei, dass der IPCC 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Bereits Ende der 1990er fragte ihn die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT), ob er als Wissenschaftsvertreter die Schweizer Delegation in den UNFCC-Verhandlungen begleiten möchte. «Erst habe ich gesagt: Nein, ich habe keine Zeit. Nach der dritten Anfrage habe ich gesagt: Ok, aber nur einmal. Daraus wurden bis zum Pariser Übereinkommen 17 Jahre, in denen ich als Mitglied der Delegation bei allen Klimaverhandlungen mitgearbeitet habe.»Ein Dirigent in den Klimaverhandlungen
Die Klimaverhandlungen auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen, war nicht immer leicht, wie sich Andreas Fischlin an die COP 2009 in Kopenhagen erinnert. Wutentbrannte Delegierte wollten dem dänischen Ministerpräsidenten, der die Verhandlungen leitete, sogar an die Gurgel. «Ich bin ihnen hinterhergerannt und rief ihnen zu: Why do you put your personal pride over everything else in such a historic hour’! Das hat sie gestoppt. Ein solcher Zusammenbruch der Verhandlungen ist meines Wissens noch nie zuvor passiert.»Nachdem der entgleiste Klimazug wieder eingespurt war, bekam Fischlin 2013 den Auftrag, den Structured Expert Dialog des ersten Periodic Review der UNFCC zu leiten. Aufgabe war es, die in Kopenhagen vorgeschlagene Grenze von 2 Grad Klimaerwärmung in Anbetracht der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu überprüfen. «Wir haben eine Auslegeordnung gemacht und es hat sich klar gezeigt, dass eine tiefere Begrenzung auf 1.5 Grad sinnvoller wäre, wenn man bedachte, welche negativen Folgen schon die damalige Erwärmung von weniger als 1 Grad hatte. Das hat unglaublich eingeschlagen. Im Pariser Übereinkommen 2015 wurden die wissenschaftlichen Argumente, die wir bereitgestellt hatten, breit diskutiert und die Regierungen haben dann eine Grenze von 1.5 Grad beschlossen.»
Ein Leben für den Lärchenwickler
Bei all seinen Ämtern hat Fischlin, der seine Dissertation bereits Über den grauen Lärchenwickler geschrieben hat, das faszinierende Insekt nie aus den Augen verloren. Das Besondere an ihm ist ein zyklisches Phänomen, das seit Jahrtausenden nachweisbar ist: Innerhalb von nur etwa vier Jahren steigt die Population um Über das Tausendfache an und fällt die folgenden vier Jahre wieder zusammen. Millionen an Forschungsgeldern sind seit Ende des Zweiten Weltkriegs in «Jedes Jahr ist eine Heerschar von Mitarbeitenden im ganzen Alpenraum auf die Bäume geklettert, hat Lärchenzweige abgeschnitten und die Raupen auf den Ästen gezählt, um die Populationsdichte Über die Jahre verfolgen zu können.» Die Ursache hinter den Zyklen ist noch immer nicht befriedigend geklärt und in Fischlins Büro stapeln sich unzählige Ordner und digital abgespeicherte Datenschätze, die einer vollständigen Veröffentlichung harren.Das Forschungsprojekt startete bereits in Fischlins Geburtsjahr 1949 und zentrale Daten aus der Anfangszeit bis 1978 wurden auf Tonbandkassetten zwischengespeichert, für die es weltweit keine Lesegeräte mehr gibt. «Auf allen sind die Antriebsrollen geschmolzen wie Kaugummi», sagt Fischlin und resümiert: «Es scheint, ich bin der letzte Mohikaner, der es schaffen könnte, diese Daten zurückzulesen und im richtigen Kontext zu veröffentlichen.»