Genauer hinschauen

- EN- DE - FR- IT
Ein Gras aus Somaliland erzählt viel über die koloniale Geschichte. (Bild: ETH B
Ein Gras aus Somaliland erzählt viel über die koloniale Geschichte. (Bild: ETH Bibliothek)
Heute wird die Ausstellung «Koloniale Spuren - Sammlungen im Kontext» im Ausstellungsraum extract eröffnet. Sie fragt nach der Vergangenheit von Objekten aus den Sammlungen der ETH Zürich und beleuchtet den Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Kolonialismus.

Im kleinen Ausstellungsraum extract im Hauptgebäude der ETH sind Pflanzenund Tierpräparate, «Giftpfeile», Utensilien zum Trocknen von Pflanzen für chinesische Medizin und viele Fotos ausgestellt, alles Bestände der Sammlungen und Archive. Und es lohnt sich genauer hinzusehen - zum Beispiel auf das Exponat mit dem etwas seltsam anmutenden Namen «Antropogon kelleri Hack».

Es handelt sich dabei um eine eher unscheinbare, getrocknete Grasart, die mit Klebstreifen auf einem Karton befestigt ist. Doch dieses Exponat erzählt viel über die Geschichte der Naturwissenschaften und auch über die Geschichte der ETH Zürich. Der Herbarbeleg - so nannte man diese Art von Pflanzendokumentation - wurde 1891 vom ETH-Zoologieprofessor Conrad Keller in Somaliland gesammelt. Besonders spannend sind zwei Angaben auf den aufgeklebten Etiketten. Zum einen steht da «Expedition», was darauf hinweist, dass sich Keller von Soldaten beschützen liess, um in Afrika Tiere, Pflanzen und Kulturgegenstände zu sammeln. Es ist bekannt, dass die Somalier:innen viel Widerstand leisteten, wenn Fremde in ihr Gebiet eindrangen.

Klassifikation von damals wirkt bis heute

Zum anderen wird das Gras als «Typus» bezeichnet. Das heisst, der Herbarbeleg von Keller dient bis heute als Referenz für die eindeutige Identifikation und Klassifikation dieser Pflanzenart. Die Grasart trägt Kellers Namen. «Wenn heute somalische Forschende ihre einheimischen Grasarten beschreiben möchten, könnte dies also bedeuten, dass sie an die ETH kommen müssten, um ihre Erkenntnisse mit dem Typus von Keller abzugleichen», erklärt Monique Ligtenberg, die Kuratorin der neuen extract-Ausstellung.

Die Historikerin hat an der ETH ihre Dissertation über Medizingeschichte und Kolonialismus geschrieben und 2023 in Zürich eine internationale Konferenz zum Thema Dekolonialisierung von Universitäten veranstaltet. «Viele renommierte Universitäten wie beispielsweise die Universität Oxford haben damit begonnen, ihre eigene koloniale Geschichte zu durchleuchten, um zu sehen, was dabei herauskommt», erklärt Ligtenberg. Auch an der ETH Zürich läuft derzeit ein Projekt, das die koloniale Vergangenheit der Hochschule genauer untersucht. Parallel dazu möchte die ETH Zürich nun thematisieren, welche kolonialen Spuren sich in den eigenen Sammlungen finden lassen.

Forschende sammelten fleissig in Übersee

Wissenschaft und Forschung waren seit jeher global. Forschende sind in den letzten Jahrhunderten viel und gerne gereist - auch um sich von der Konkurrenz abzuheben. Die ETH Zürich, die 1855 gegründet wurde, wollte ihre internationale Bedeutung ebenfalls damit unterstreichen, dass sie Expert:innen nach Übersee schickte, wo sie Flora und Fauna, Topografie und Bodenschätze erforschten. Die naturhistorischen Sammlungen der Hochschule beherbergen unter anderem deshalb Zehntausende von Objekten aus ehemaligen Überseekolonien. Eine Herausforderung für die aktuelle Ausstellung mit ihren rund 60 Exponaten bestand darin eine Auswahl zu treffen, welche besonders repräsentativ für das Thema Kolonialismus ist. Ein starker Fokus liegt dabei darauf, die Provenienz, also die Herkunft der einzelnen Objekte, zu thematisieren.

Historische Spuren suchen, über die Gegenwart reden

Biographien von einzelnen europäischen Forschenden werden zwar auch gezeigt, aber sie stehen bewusst neben Porträts von indigenen Menschen, ohne die viele Forschungsreisen gar nicht möglich gewesen wären. «Es geht uns weniger darum, zu thematisieren, wer wann was gemacht hat, sondern einen Eindruck zu vermitteln, wie der Kolonialismus auch heute noch die Forschung prägt, auch wenn uns das gar nicht immer bewusst ist», sagt Ligtenberg. Die Ausstellung stellt deshalb auch immer wieder die Frage «Wie ist es heute?». Im zweiten Raum der Ausstellung können sich die Besuchenden Videos von aktuellen Forschungsprojekten ansehen und erfahren so mehr, wie heute die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem globalen Süden aussieht. Damit entspricht die Ausstellung «Koloniale Spuren - Sammlungen im Kontext» genau dem Konzept von extract, das zeigen möchte, wie aktuell und bedeutend historische Bestände auch für die Gegenwart sein können.


Doch springt die ETH mit der Kolonialismus-Ausstellung nicht einfach auf ein trendiges Thema auf? Und ist das Thema für die Schweiz, die nie eigene Kolonien besass, wirklich so relevant? Michael Gasser, Leiter Sammlungen und Archive der ETH-Bibliothek, meint dazu: «Uns ist völlig bewusst, dass die Schweiz eine eigene Rolle hatte und auch die ETH mit ihrer naturwissenschaftlich-technischen Ausrichtung anders im Fokus steht als Institutionen, die beispielsweise Rassenkunde betrieben haben. Aber es gehört zum Wesen der Forschung, dass sie analysiert und daraus Erkenntnisse für die Zukunft gewinnt. Genau darum geht es auch im universitären Diskurs über den Kolonialismus. Die ETH Zürich lernt aus ihrer eigenen Geschichte und entwickelt sich weiter - sie tut also genau das, was man von einer Spitzenuniversität erwartet.» Die Ausstellung «Koloniale Spuren - Sammlungen im Kontext» möchte dazu einen Beitrag leisten und es ermöglichen, genauer hinzuschauen. Am einfachsten geht das, wenn man mal hingeht.

Ausstellung «Koloniale Spuren - Sammlungen im Kontext»

Die neue Ausstellung « Koloniale Spuren - Sammlungen im Kontext » wird am 29. August eröffnet. Die Vernissage findet um 18.00 Uhr im Hauptgebäude der ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich in der Uhrenhalle (HG F 60) statt. Zwischen 17.00 und 20.00 Uhr besteht die Möglichkeit, die Ausstellung zu besuchen.

Der Besuch der Ausstellung ist kostenlos und steht allen Interessierten während der Öffnungszeiten des ETH-Hauptgebäudes offen. Alle Informationen zu extract und der aktuellen Ausstellung unter: https://extract.ethz.ch/

Franziska Schmid