Menschen, die mit HIV leben, profitieren heute von einer wirksamen antiretroviralen Therapie (ART). Bei über 95% der Menschen, die eine Behandlung erhalten, ist das Virus im Blut nicht nachweisbar und nicht übertragbar. Es überdauert jedoch in einigen wenigen Zellen, die als "Reservoir" fungieren. Die Existenz dieser verborgenen HIV-Reservoirs, die lange Zeit als schlafend oder "latent" galten, stellt eine grundlegende Herausforderung für die Heilung dar.
In einer Studie, die in der renommierten Zeitschrift Cell Host & Microbe veröffentlicht wurde, zeigt das Team von Prof. Daniel Kaufmann, dem weltweit führenden HIV-Experten, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am CHUV, Professor an der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne und Gastprofessor an der Universität Montreal, dass bei der Mehrheit der Teilnehmer die HIV-Reservoire auch nach Jahren der antiviralen Behandlung noch aktiv sein können. Sie stellen dann Teile des Virus her, was zu einer Überstimulation des Immunsystems führt.
Neue Technik zum Nachweis von Virusreservoirs
Das Virus lebt und repliziert sich hauptsächlich in einer Art von weißen Blutkörperchen, den CD4-T-Lymphozyten. Die Populationen der CD4-T-Zellen sind jedoch sehr variabel. Um neue gezielte Therapien zu entwickeln, die diese verbleibenden infizierten Zellen entweder eliminieren oder vollständig blockieren, muss man genau herausfinden, in welcher Art von CD4-T-Zellen das Virus Unterschlupf findet und welche Eigenschaften sie haben. Dank der Arbeiten von Prof. Kaufmann, die in Montreal und Lausanne durchgeführt wurden, konnte eine innovative und besonders empfindliche Labortechnik zum Nachweis dieser Reservoirs entwickelt werden. Sie ermöglicht es, von jeder einzelnen Zelle, in der sich das Virus verbirgt, ein "Foto" zu machen und sie zu isolieren, um das Virus, das sie beherbergt, zu analysieren.Bei der Mehrheit der Teilnehmer/innen identifizierten die Forscher/innen CD4-Reservoirzellen, die trotz der derzeit verfügbaren antiretroviralen Therapien Teile des versteckten Virus exprimierten. Die Wissenschaftler machten noch eine weitere faszinierende Beobachtung: Die große Mehrheit der so identifizierten aktiven Viren trug Mutationen, die sie unfähig machten, neue, vollständige Viruspartikel zu produzieren. ’ Trotz ihrer Anomalien scheinen diese Viren dennoch einen wichtigen Einfluss auf das Immunsystem zu haben. Denn diese aktiven Reservoirs stimulieren das Immunsystem kontinuierlich, was zu einer Erschöpfung des Immunsystems führen könnte’, bemerkt Prof. Kaufmann.
Chronische Entzündungen
Diese Forschung bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Aktivität von HIV-Reservoiren und einer ständigen Stimulierung des Immunsystems bei Menschen, die eine antivirale Therapie erhalten. Sie wirft auch die Hypothese auf, dass es eine Verbindung zwischen diesen Virusreservoiren und der chronischen Entzündung gibt, die bei einem Teil der Menschen, die mit HIV leben, beobachtet wird. Das Fortbestehen einer chronischen Entzündung bei Menschen mit HIV trotz antiretroviraler Therapie kann zu langfristigen Gesundheitsproblemen führen, insbesondere zu einem verdoppelten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und vorzeitigen Alterserscheinungen (Osteoporose, neurologische Störungen...).In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus der Schweiz, Kanada und den USA plant das Forschungsteam von Daniel Kaufmann in den nächsten Monaten, diese Hypothese eines Zusammenhangs zwischen aktiven HIV-Reservoirs und Entzündungen sowie der Qualität und den Abwehrmechanismen gegen das Virus zu bewerten.
über die Studie
Prof. Daniel Kaufmann, der erste Prüfarzt der Studie, war zehn Jahre lang als Arzt und Forscher am Centre Hospitalier Universitaire de Montréal (CHUM) tätig. Im Jahr 2022 wurde er zum Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am CHUV ernannt. Als weltweiter HIV-Spezialist setzt er seine in Montreal begonnene Arbeit nun in Lausanne fort.Der Artikel Spontaneous HIV expression during suppressive ART is associated with the magnitude and function of HIV-specific CD4+ and CD8+ T cells, von Mathieu Dubé und Kollegen, wurde am 13. September 2023 in der Zeitschrift Cell Host & Microbe veröffentlicht und ist Gegenstand eines redaktionellen Kommentars der Zeitschrift.
Die Studie wurde von den kanadischen Gesundheitsforschungsinstituten (IRSC), den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH), dem Fonds de Recherche du Québec-Santé (FRQS) und dem Netzwerk für AIDS und Infektionskrankheiten des Fonds de Recherche du Québec-Santé finanziert.