Bergstürze und reissende Wildbäche begannen vor rund 25 Millionen Jahren das Bild der heutigen Alpen zu prägen. Innerhalb weniger Millionen Jahre entstanden aus einer ursprünglich hügeligen Landschaft die tiefen und steilen Alpentäler. Dank digitaler Technologien konnten Berner Geologen diese Entwicklung anhand versteinerter Flussläufe erstmals rekonstruieren.
Innerhalb von einem - geologisch betrachtet - kleinen Zeitraum von nur fünf Millionen Jahren entstand das Bild der heutigen Alpen mit V-förmigen Tälern und steilen Talflanken. Zu diesem Schluss kamen Philippos Garefalakis und Fritz Schlunegger vom Institut für Geologie der Universität Bern, als sie die Gesteine rund um die Rigi untersuchten. Dieser Berg besteht aus versteinertem Flussschotter, welcher von der Ur-Reuss aus den Alpen ins Mittelland transportiert wurde und damit die Landschaftsgeschichte dokumentiert. Damit war es zum ersten Mal möglich, die Entwicklung der alpinen Landschaft im Detail zu rekonstruieren. Die Studie wurde nun in der Nature-Publikation «Scientific Reports» publiziert.
Von der Auenlandschaft zu Wildbächen
Die Ur-Reuss entsprang vor 30 Millionen Jahren einer hügeligen Landschaft, vergleichbar mit dem heutigen Schwarzwald. Im heutigen Rigi-Gebiet liegen Schicht für Schicht versteinerte Flussläufe der Ur-Reuss, die damals durch diese Landschaft floss. Diese Flussläufe - es sind mehrere Tausend - haben sich im Verlauf der Zeit zu harten Gesteinen verbacken, sogenannten Nagelfluhbänken.
Die Flüsse transportierten Kies und Schotter in das Gebiet der heutigen Rigi und lagerten dabei Tausende von Geröllen ab. Diese sind heute in den Nagelfluhbänken eingeschlossen. Das Team um Philippos Garefalakis vermass jede einzelne Bank und über 5’000 Flussgerölle vom Fuss bis zum Gipfel der Rigi. Die Ergebnisse haben die Forschenden überrascht: Am Fuss der Rigi sind die versteinerten Flussläufe 30 Millionen Jahre alt, zwei bis vier Meter tief, bestehen aus faustgrossen Geröllen, und werden seitlich von Schlammsteinen gesäumt. Auf dem Gipfel sind sie 25 Millionen Jahre alt, mit einer Tiefe von weniger als einem Meter, und bestehen aus kopfgrossen, chaotisch gelagerten Geröllbrocken. «Daraus lässt sich schliessen, dass die Ur-Reuss im Laufe von fünf Millionen Jahren einen Wildbachcharakter angenommen und eine kilometerbreite Schotterebene gebildet hatte», sagt Garefalakis.
Dramatische Entwicklung
«Die Landschaft im Quellgebiet der Ur-Reuss muss sich dramatisch verändert haben», sagt Garefalakis. Die kopfgrossen Boliden und Schotterebenen auf dem Dach der Rigi belegen, dass der Fluss eine grosse Kraft hatte und viel Geröll führte. Folglich war die Landschaft im Quellgebiet zu dieser Zeit steil, tief eingeschnitten und von Bergstürzen geprägt. Die alpinen Täler glichen also bereits vor 25 Millionen Jahren dem heutigen Landschaftsbild.
Fünf Millionen Jahre früher sah dies noch anders aus: in einer Auenlandschaft, wie sie von den 30 Millionen Jahre alten Schichten am Fusse des Rigi-Gebirges aufgezeichnet ist, hatten die Flüsse weniger Schubkraft und führten weniger Geröll. Dementsprechend war auch das Einzugsgebiet flach, sanft und Bergstürze traten selten auf. Die alpine Landschaft im Quellgebiet wurde also im Verlaufe dieser fünf Millionen Jahre steiler und die Flüsse transportierten mehr Geröll. Ausgelöst wurde diese einschneidende Veränderung durch eine starke Hebung der Alpen im Einzugsgebiet der Ur-Reuss. Dies hatte eine Versteilung der Landschaft zur Folge und liess die Ur-Reuss zu einem Wildbach werden.
Einsatz digitaler Technologien
Am Rand der Alpen gibt es zahlreiche solcher Nagelfluhschichten, welche die Entwicklung der alpinen Flüsse während der letzten Millionen Jahre dokumentieren. Aus dem Ingenieurswesen ist bereits bekannt, dass zwischen der Grösse von Geröllen in Flüssen und der Schubkraft des Wassers quantitative Zusammenhänge bestehen. Daraus können auch Rückschlüsse auf Flüsse aus der Vergangenheit gezogen werden - dazu müssen allerdings Rinnentiefen und Tausende von verbackenen Flussgeröllen vermessen werden. Mit konventioneller Vermessung mit dem Meterstab im Feld wäre der Zeitaufwand kaum zu bewältigen. «Dank dem Einsatz digitaler Technologien waren wir zum ersten Mal in der Lage, diese grosse Datenmenge zu erheben», beschreibt Garefalakis das Vorgehen. Mit diesem Ansatz, bei dem Gesteine im Gelände fotografiert und anschliessend mit dem Computer halbautomatisch vermessen werden, kann der Zeitaufwand auf ein vernünftiges Mass reduziert werden. Damit wird es in Zukunft möglich sein, auch die anderen Flussablagerungen am Alpenrand quantitativ zu untersuchen.
Angaben zur Publikation:
Garefalakis, P., Schlunegger, F., 2018: Link between concentrations of sediment flux and deep crustal processes beneath the European Alps, Scientific Reports, 9. Januar 2018, doi: 10.1038/s41598-017-17182-8.