Die Wirklichkeit ist mehr als das Messbare

Kann ein Astrophysiker mit der Theologie in einen Dialog treten, ohne sein eigenes Fach infrage zu stellen? Arnold Benz, emeritierter Professor für Astrophysik an der ETH Zürich, zeigte an der diesjährigen Otto-Karrer-Vorlesung in der Jesuitenkirche Luzern, dass zwischen dem Vermessen von Galaxien und religiöser Weltdeutung keine Konkurrenz bestehen muss.

Der 1945 in Winterthur geborene Arnold Benz nennt auf seiner Internetseite zwei Ereignisse, die den Ursprung seiner Faszination für das Weltall auf der einen, und der Beschäftigung mit Religion auf der anderen Seite bilden: Die Berichterstattung über «Sputnik», den ersten Satelliten in der Erdumlaufbahn 1957, und seine Konfirmation im Jahr 1961.

Im Laufe seiner Tätigkeit hat sich der international renommierte Astrophysiker, dessen Forschungsschwerpunkte die Sonnenphysik und die Entstehung der Sterne sind, zunehmend auch dem Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften und Theologie gewidmet. Dabei ist er durch die interdisziplinäre Arbeit zwischen den unterschiedlichen Fachbereichen zur Überzeugung gelangt, dass sich die beiden Gebiete gegenseitig anregen und sogar ergänzen können. Dies erläuterte er in seiner Vorlesung unter dem Titel «vom Unendlichen berührt».

Messen und staunen

Wenn in der Rede von Gott von Unendlichkeit gesprochen wird, hält dem der Naturwissenschaftler entgegen, dass in der Physik nur zählt, was messbar ist. Das Unendliche hat keinen dort Platz, auch wenn das Messbare Lichtjahre oder schwindelerregende Zahlen von «Billionen von Billionen» von Sternen meint. Naturwissenschaften und Theologie, hält Arnold Benz denn auch fest, sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen, sie haben auch verschiedene Grundfragen und Perspektiven. Während die Physik sich dem methodischen «Wie» stellt, frage die Theologie nach dem sinnhaften «Warum» und dem «Wozu». Doch das, so ist Benz Überzeugt, schliesse sich nicht aus. Die Naturwissenschaft aber, und damit das heute davon dominierte Weltbild, zeige ein reduziertes Wirklichkeitsverständnis. Denn nicht alles, was die Wirklichkeit bestimme, sei objektiv messbar.

Hier bringt der Astrophysiker die Begriffe Vertrauen und Staunen ins Spiel. Um dem biblischen Glauben an die Schöpfung Gottes heute einen Sinn zu verleihen, müsse er nicht mit der Erklärung des Urknalls in Konkurrenz treten. Die Theologie wäre schlecht beraten, wenn sie sich mit Blick auf die Existenz Gottes auf physikalische Erkenntnisse abstützen würde, meinte er schmunzelnd. Schöpfungsglauben versteht er als das Vertrauen darin, dass die sich durch die Geschichte verändernde Welt grundsätzlich gut ist und sich im Guten weiter verändern wird. Daran schliesst er das Stauen über diese Wirklichkeit an, darüber, dass diese Welt nicht selbstverständlich ist.

Staunen als eine subjektive Erfahrung habe heute allerdings in der Naturwissenschaft keinen Platz. Dagegen verweist Arnold Benz auf den Universalgelehrten Aristoteles, der das Staunen für den Ursprung der Wissenschaft hielt. Auf grosse Fragen wie, warum das Universum so ist, wie es ist, brauche es grosse Antworten, die sich für ihn nicht allein aus der Astrophysik ergeben. Hier sei eine «subjektive Reaktion» gefordert, die der Referent aus dem teilhabenden Beobachten der Wirklichkeit gewinnt, einer nach seinen Worten «existenziellen Wahrnehmung».

Ökumene von Glauben und Wissenschaft

An dieser Stelle würdigte der Referent die bereits in den 1960er-Jahren von Otto Karrer angeregten Dialoge im «Ökumenischen Arbeitskreis Glaube und Wissenschaft», der bis heute Bestand hat. So unterschiedlich die Fachbereiche Theologie und Naturwissenschaften sind, so wichtig bleibe der interdisziplinäre Dialog. Denn zur Deutung der sich stets wandelnden Lebenswirklichkeit könne keines der Gebiete für sich in Anspruch nehmen, diese vollständig erfassen zu können. Ihre sich auf beiden Seiten stets weiterentwickelnden Erkenntnisse würden sich jedoch weiterhin gegenseitig anregen, nach Antworten auf die grossen Fragen zu suchen.

Arnold Benz hat dafür nebst seinem wissenschaftlichen Arbeiten und dreissig Jahren interdisziplinärem Dialog für sich eine neue Sprachform versucht: In «Astronomischen Psalmen», die in seiner jüngsten Publikation zusammengefasst sind, stellt er Physik und Glaube in eine Reihe. Dies nicht, um die beiden Bereiche am Ende doch noch zu vermengen, sondern um seinem Staunen sowohl über das Universum wie auch über das Göttliche Ausdruck zu geben.

Martin Spilker schreibt regelmässig für Anlässe des Ökumenischen Instituts Luzern

Die Otto-Karrer-Vorlesung 2024

Die Otto-Karrer-Gedenkvorlesung wird in Erinnerung an den Luzerner Theologen und Ökumeniker Otto Karrer (1888-1976) von der Theologischen Fakultät der Universität Luzern durchgeführt. In Würdigung dieses Vordenkers einer gerechten Gesellschaft sprechen Persönlichkeiten aus Kirche, Wissenschaft und Politik. Die Vorlesung wird von der Leiterin des Ökumenischen Instituts Luzern, Nicola Ottiger, verantwortet. Die diesjährige Otto-Karrer-Vorlesung wurde in Anwesenheit des Rektors der Universität Luzern, Martin Hartmann, und der Dekanin der Theologischen Fakultät, Margrit Wasmeier-Sailer, auch durch den Besuch von Felix Gmür, Bischof von Basel, und dem Luzerner Regierungsrat Armin Hartmann, Vorsteher des Bildungsund Kulturdepartements, gewürdigt. An der Vorlesung in der Jesuitenkirche haben gegen 300 Personen teilgenommen.

An der Vorlesung vorgetragener «Astronomischer Psalm»

Grenzen

Im Zentrum der Milchstraße ist ein Schwarzes Loch,
eine imaginäre Kugel,
schwarz und unsichtbar:
ein Horizont, hinter den kein Teleskop dringt.
Gewicht: vier Millionen Sonnen.
Schwerkraft hält alle Informationen zurück.
Der Horizont ist die Grenze unseres Wissens.
Was dahinter liegt, bleibt Geheimnis.

Der Urknall - auch eine Grenze, nicht eines Raums, sondern der Zeit.
Was vorher war, können wir nicht wissen, werden es nie messen.
Davor gab es keine Uhren, keine Messlatten, keine Zeit, keinen Raum.

In Raum und Zeit kommt die Physik an Grenzen.
Schwarze Löcher und Urknall sind unüberwindbare Horizonte.
Das Universum ist größer als der Bereich, den die Astrophysik ergründen kann.

Mein Körper folgt den kosmischen Gesetzen.
Doch mein Bewusstsein ist weder gesetzesstarr noch zufällig.
Die Quantenmechanik kann es weder berechnen noch erklären.
Auch hier eine Grenze.

Was Mitmenschen denken, fühlen, liegt hinter einem Horizont.
Auch ich selbst bleibe mir rätselhaft jenseits der Grenzen meines Bewusstseins.

Siehst du, Gott, mein Schöpfer,
auch hinter diese Grenze?
Kennst du alle meine Gedanken, Wünsche und Ängste?

Arnold Benz

Mehr Informationen über den Referenten auf der Webseite von Arnold Benz