Söldner, Sklave, Schriftsteller

Darstellung eines Sklavenmarktes in Algier auf dem «christliche Sklaven» verkauf
Darstellung eines Sklavenmarktes in Algier auf dem «christliche Sklaven» verkauft werden, aus «Historie van Barbaryen en des Zelfs zee-roovers», Le Père Pierre Dan, 1684; Quelle: Bibliothèque nationale de France.
Nordafrikanische Piraten versklavten in der Frühen Neuzeit Dutzende Eidgenossen, darunter den Appenzeller Johannes Rohner. Seine aussergewöhnliche Lebensgeschichte liest sich, vielleicht nicht ganz zufällig, wie ein Thriller.

Eigentlich sollte Johannes Rohner am Neujahrstag 1794 nur ein paar Einkäufe erledigen. Der Vater hatte den Sechzehnjährigen dazu ins Dorf Thal geschickt, zum Gasthof Hirschen. Doch dort angekommen, änderte Johannes kurzerhand seine Pläne: Als ihm ein Werber den Kriegsdienst für das Königreich Sardinien-Piemont anpries, willigte der junge Appenzeller sofort ein. Dass sein Leben damit eine folgenschwere Wendung nehmen würde, konnte der zierliche, blonde Mann - er war nur knapp 1,60 Meter gross - damals noch nicht ahnen.

«Ich war sehr guter Dinge», schrieb Rohner rückblickend in seiner Lebensgeschichte. Zwar versuchte die Mutter, ihm den Solddienst auszureden und «weinte sehr». Doch der Sohn blieb stur. «Alles Bitten half nichts, ich wollte in die Ferne.» Nach zwei Jahren wurde Rohners Regiment aufgelöst, und im Frühjahr 1796 befand er sich auf dem Weg in die Heimat nach Wolfhalden. Als er jedoch in Bellinzona auf einen Landsmann traf, der von der angeblich schlechten Wirtschaftslage in der Heimat berichtete, verspürte Johannes Rohner wenig Lust, nach Hause zurückzukehren. Er liess sich zusammen mit Johannes Frischknecht, ebenfalls einem Appenzeller, erneut anwerben: diesmal für ein Regiment des Königs von Neapel. Im November 1796 bestiegen die beiden in Genua ein Schiff, das sie nach Neapel bringen sollte.

Piraten als ständige Bedrohung

Einen Monat später trieb das Schiff orientierungslos vor der italienischen Küstenstadt Civitavecchia, als der Kapitän durch sein Fernglas tunesische Korsaren sichtete. Er erkannte die Gefahr sofort. Denn bereits seit drei Jahrhunderten machten muslimische Piraten aus Tunis, Algier und Tripolis das Mittelmeer unsicher. Ihr Geschäftsmodell: Sie kaperten christliche Schiffe, versklavten ihre menschliche Beute und forderten aus deren Heimatländern horrende Lösegelder. In ihre Fänge gerieten in der Frühen Neuzeit auch mindestens 52 Männer und Frauen aus der Eidgenossenschaft, wie die Masterarbeit des Historikers Michael Gabathuler an der Universität Luzern (2015) zeigt.

Statt Johannes Rohner und das restliche Regiment zu warnen, rettete der Kapitän seine eigene Haut. Er schickte die Truppe unter einem Vorwand unter Deck und setzte sich mit der Besatzung ab. Für die Piraten waren die Söldner leichte Beute. Rohner erinnerte sich: «Nur so viel wurde uns gelassen, dass wir unsere Blösse einigermassen bedecken konnten.» Fünf Tage später erreichten sie Tunis, wo der dortige Herrscher Johannes Rohner zu seinem Haussklaven machte.

Sklavenberichte waren populär

Dass sich das Schicksal des Appenzellers so detailreich nachzeichnen lässt, ist ihm selbst zu verdanken. Nach zehnjähriger Gefangenschaft verarbeitete Rohner, wie unzählige andere europäische Christen, seine Erlebnisse in einer autobiografischen Schrift. Einer der bekanntesten Autoren dieser Art war Miguel de Cervantes, der in «Don Quijote» (1605) seine fünfjährige Sklaverei-Erfahrung in Algier einflocht. Solche Texte waren äusserst populär, denn die europäische öffentlichkeit beschäftigte die Gefahr der Mittelmeer-Piraterie seit Mitte des 16. Jahrhunderts stark - lange Zeit viel stärker als die deutlich verheerenderen Folgen der transatlantischen Sklaverei, der 12 Millionen Menschen aus Afrika zum Opfer fielen. Im Schatten dieses sogenannten «Dreieckhandels» versklavten nordafrikanische Piraten bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrere Hunderttausend europäische Christen.

Zweifel an Glaubenstreue

Bereits ein Jahr nach seiner Rückkehr veröffentlichte Johannes Rohner im «Appenzeller Kalender», einem der damals einflussreichsten Medien im Kanton, seine Lebensgeschichte. Es folgten zwei Auflagen eines Buches (1825 und 1838), in dem er noch detaillierter schilderte, was er in nordafrikanischer Sklaverei erlebt hatte.

Damit verfolgte er eine Mission in eigener Sache: Der Protestant musste zurück in der Heimat erklären, dass er dem Glauben treu geblieben war. Selbstredend stellte er sich in das bestmögliche Licht. Die Zweifel an seiner Glaubenstreue waren nicht unbegründet. In Nordafrika verfügten christliche Sklaven über weitreichende Handlungsspielräume. Wer zum Islam konvertierte, konnte eine glanzvolle Karriere hinlegen. Im Gegensatz dazu waren für Opfer der transatlantischen Sklaverei solche Aufstiegschancen oder ein Loskauf durch die Regierung in der Heimat unerreichbar.

Wertvolle historische Quellen

Johannes Rohner hingegen konnte hoffen. Aus Bardo bei Tunis schrieb er verzweifelte Briefe an die Eltern, seinen Paten sowie an den Landammann Appenzell Ausserrhodens. Auch die Kantone Waadt und Bern sowie die Eidgenossenschaft schalteten sich ein, weil der Herrscher von Tunis bald nach Rohners Ankunft zwei Berner und einen Waadtländer versklavte. Die Überlieferten staatlichen Akten, und vor allem Rohners autobiografischer Bericht und seine Briefe, sind ein Glücksfall: Sie ermöglichen es, die Geschichte eines Sklaven aus der Eidgenossenschaft erstmals umfassend und kritisch aufzuarbeiten.

Rohners autobiografischer Bericht und seine Briefe sind ein Glücksfall.


Bis zu seiner Heimkehr musste sich Johannes Rohner aber gedulden. Der Herrscher von Tunis forderte 2300 Gulden für den Appenzeller. Ein immenser Betrag. Zum Vergleich: Ein Haus kostete damals etwa 800 Gulden. Angesichts der horrenden Summe blieben zwei Spendensammlungen im Kanton erfolglos. Eine Wende brachte erst ein Bruder Napoleons, Joseph Bonaparte. Als er im März 1806 den Thron Neapels bestieg, setzte er sich für die gefangenen Söldner ein.

Heimkehrer erzählt eigene Version

Als Johannes Rohner nach über zehn Jahren nach Appenzell Ausserrhoden zurückkehrte, liess er sich als Erstes konfirmieren. Damit legte er den Grundstein für den Neuanfang in der Heimat. Dass er dafür von den Behörden eine Starthilfe von 200 Gulden erhielt, erwähnte er in seinen Schriften nicht. Es hätte - wie vieles andere, das er aussparte - an seiner Version der Geschichte gekratzt.

Pascal Michel
Zehn Jahre versklavt. Die vergessene Lebensgeschichte des Johannes Rohner
Appenzeller Verlag 2023

Pascal Michel

Das Buch «Zehn Jahre versklavt» basiert auf Pascal Michels Bachelorarbeit, betreut durch Daniel Speich Chassé am am Historischen Seminar, die im Herbst 2022 von der Kulturund Sozialwissenschaftlichen Fakultät als herausragende Arbeit ausgezeichnet wurde. Ausgehend von dieser Arbeit hat Pascal Michel zusätzliches Quellenmaterial ausgewertet. Seine umfassende Recherche wurde im Frühling 2023 im Appenzeller Verlag publiziert. Pascal Michel hat sein Studium an der Universität Luzern weitergeführt und studiert zurzeit Geschichte im Master mit Nebenfach Philosophie; zudem arbeitet er als Journalist bei einer Tageszeitung.