Das Seeufer ist unmittelbar von menschlichen Aktivitäten betroffen: Es wird geschwommen und gefischt, Flusswasser gelangt in den See, und aus dem Abwasser können Schadstoffe austreten. Bisher wurde allgemein angenommen, dass eine am Ufer freigesetzte Verbindung sich langsam über den See verteilt und dabei abgebaut wird, so dass sie am Ende nur noch schwach konzentriert und im tiefen Seewasser kaum noch nachweisbar ist. «In unserem Projekt zeigen wir, dass dies keineswegs immer stimmt», sagt Tomy Doda, Wissenschaftler in der Gruppe für Aquatische Physik von Damien Bouffard an der Eawag und Erstautor der Studie: «Wenn es eine Strömung gibt, welche die Uferregion mit der Mitte des Sees verbindet, wird die Substanz viel schneller transportiert und erreicht die tiefere Seeregion, bevor sie vollständig verdünnt und zersetzt ist.»
Im Falle eines Schadstoffs kann dies negative Folgen für das See-Ökosystem haben. Aber auch positive Auswirkungen sind denkbar, wenn durch eine solche Strömung beispielsweise Fische mit Sauerstoff beliefert werden. «Das wichtigste Resultat unserer Arbeit ist, dass die gängige Vorstellung, Uferregion und Seemitte seien voneinander abgekoppelt, geändert werden muss», sagt Doda.
Im Fachjargon bezeichnen die Forschenden die Uferzone eines Sees als Litoral, die uferferne Region als Pelagial. Eine Strömung, die Litoral und Pelagial verbindet, kann beispielsweise durch Wind und Wellen entstehen. In ihrer Studie untersuchten Doda und seine Kollegen jedoch einen völlig anderen Prozess. Dieser wird angetrieben durch die Abkühlung der Seeoberfläche während der Nacht oder an kalten Wintertagen, wenn die Luft kälter ist als das Seewasser. Das abgekühlte Wasser an der Oberfläche ist dichter und sinkt dadurch nach unten. Es kommt zu einer Durchmischung, die man als Konvektion bezeichnet.
«Zudem geschieht noch etwas Weiteres, das uns besonders interessiert», sagt Doda: «Da der See nahe am Ufer flacher ist, kühlt sich das Wasser dort viel schneller ab als in der Seemitte.» Dadurch wird das gesamte Wasser in Ufernähe dichter und stürzt wie eine Unterwasserkaskade über den Seegrund zur Mitte hin ab. An der Oberfläche wird dadurch eine Strömung in entgegengesetzter Richtung ausgelöst, die den Fluss am Seegrund ausgleicht.
Dass dieser Prozess, der als zonenübergreifende, konvektive Zirkulation oder thermischer Siphon bezeichnet wird, existiert, ist zwar schon länger bekannt, doch es wurde bisher nie eindeutig untersucht, ob dadurch Stoffe vom Ufer weg transportiert werden können. «Genau dies haben wir in unserer Studie getan», erklärt Doda: «Wir haben uns Gase angeschaut, aber es wäre auch interessant, das Schicksal anderer Stoffe wie zum Beispiel Nährstoffe oder Schadstoffe zu untersuchen. Wir haben uns für Gase entschieden, weil sie viele Auswirkungen auf das Ökosystem haben.» So ist Sauerstoff für viele Organismen lebenswichtig. Und in der Klimaforschung versucht man, Emissionen von Treibhausgasen aus Seen zu quantifizieren.
Für ihre Messungen wählten die Forschenden den Rotsee in der Nähe von Luzern, weil dieser besonders windgeschützt ist, was auch die Ruderer während der häufig ausgetragenen, internationalen Regatten schätzen. Zwei kalte Tage und Nächte im November verbrachte das Forschungsteam auf dem See, installierte am Seegrund Sensoren für die Geschwindigkeit und Temperatur des Wassers und führte Messungen von einer Plattform sowie einem Boot aus durch.
Um herauszufinden, ob durch den thermischen Siphon tatsächlich Gas transportiert wird, verwendeten die Forschenden in einem ersten Schritt das Edelgas Krypton, das sie in der Uferregion in den See leiteten. Mit ihren Messungen an verschiedenen Stellen konnten die Forschenden zeigen, dass das Edelgas mit der Strömung vom Litoral ins Pelagial gelangte. Zum Nachweis des Gases verwendete das Team ein tragbares Massenspektrometer, das vom Eawag-Spin-off "Gasometrix GmbH" für solche Untersuchungen entwickelt wurde.
In einem zweiten Schritt verfolgte Dodas Team den natürlich vorkommenden Sauerstoff. Zum Zeitpunkt der Messungen wies dieses Gas in der Uferregion eine höhere Konzentration auf als in der Seemitte. «Es sollte sich deshalb ähnlich verhalten wie das eingeleitete Krypton», erklärt der Wissenschaftler: «Wir führten dieselben Messungen durch und konnten zeigen, dass die Strömung auch den Sauerstoff ins Pelagial transportierte.» Als letztes Gas untersuchte die Gruppe Methan. Dessen Konzentration war in der Seemitte höher als in der Uferregion. Und tatsächlich zeigten Messungen an verschiedenen Punkten, dass Methan an der Oberfläche in die entgegengesetzte Richtung verfrachtet wurde, nämlich vom Pelagial ins Litoral.
Besonders interessant war auch die Geschwindigkeit, mit der sich die Gase bewegten. «Dieser Transport ist zehnmal schneller als das, was man erwarten würde, wenn man diese Strömung nicht einbeziehen würde», sagt Doda: «Wir glauben deshalb, dass man diesen Prozess in künftigen Studien berücksichtigen muss.»