Wie finden sich Muslim_innen in einer pluralistischen Gesellschaft zurecht? Das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg geht mit dem Projekt «Diversität und Orientierung» dieser Frage nach - und arbeitet Antworten heraus, die in den Bereichen Bildung und Seelsorge in der Praxis helfen können.
«Islam wird in der Regel nicht mit Diversität in Verbindung gebracht. Islamische Praktiken und Glaubensinhalte werden oft als unvereinbar mit gesellschaftlicher Pluralität dargestellt», sagt Dominik Müller. Er ist Teil eines jungen Projekts des SZIG, das genau das ändern will. Ein sechsköpfiges Team versucht unter dem Begriff «Diversität und Orientierung» aus einer sozialwissenschaftlichen, aber auch islamisch-theologischen Reflexion heraus Ressourcen für den Umgang mit Vielfalt in der Gegenwart herauszuarbeiten. Einerseits werden in dem Projekt konkrete Umgänge mit Diversität empirisch erforscht und andererseits Ressourcen aus muslimischen Traditionen systematisch erschlossen.Überlappung von Identitäten
Es stellt sich als Erstes die Frage: Warum braucht es dieses Forschungsprojekt? Warum wird der Islam selten mit Diversität in Verbindung gebracht? «Religionen haben im Kern immer einen exklusiven Wahrheitsanspruch», sagt Amir Dziri, der das Projekt leitet. «In der Praxis sind die Leute aber jeweils nicht nur Teil einer Religion, sondern auch einer Kultur, einer Sprachgemeinschaft, einer Ethnie usw. Diese Überlappung von Identitäten schafft einen Ausgleich zu dem exklusiven Wahrheitsanspruch.» Das gilt erst recht für säkulare Gemeinschaften wie der schweizerischen. «Wir leben in Zeiten von Superdiversität. Es ist deshalb interessant zu untersuchen, wie sich die Menschen in diesem Umfeld als Muslime definieren», sagt Sébastien Dupuis, der sich innerhalb des zweisprachigen Projekts mit der Romandie auseinandersetzt.
Kompromisse gehören zum islamischen Alltag
Nebst innermuslimischer Diversität steht deshalb das Aushandeln von Islamizität im Kontext des pluralen schweizerischen Gesellschaftsrahmens im Fokus. Dominik Müller nennt ein Beispiel, auf das er in seiner Dissertation gestossen war. Ein junger muslimischer Mann hatte ein Jobangebot von einer Zürcher Bar, in der natürlich auch Alkohol ausgeschenkt wurde - und stellte sich die Frage, ob er diesen Job annehmen dürfe. Er wandte sich mit der Frage an einen Theologen, der sich daraufhin eines islamrechtlichen Instrumentes bediente, um dem jungen Mann eine Rechtsauskunft zu erteilen. Der Gelehrte erklärte dem Mann, er dürfe angesichts seiner prekären finanziellen Situation den Job annehmen, weil es wichtig für die Familie sei, dass er seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. «Das Beispiel zeigt, dass durchaus Ambiguitätstoleranz vorhanden ist. Diversität war immer schon Gegenstand muslimischen Alltagslebens und islamischer Gelehrtentradition.»
Engagiert und partizipativ
Bei dem Projekt, das von der Stiftung Mercator Schweiz gefördert wird, geht es deshalb nicht bloss darum, den Ist-Zustand zu beschreiben. Sich den grossen Fragen anzunähern wie: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Ist Religion eine Ressource, um sich zurechtzufinden? Oder ein Hindernis? Schafft sie Integration? Oder Abgrenzung? Es geht auch darum, den Menschen, die in den Bereichen Bildung und Seelsorge arbeiten, Wissen und damit wichtige Werkzeuge für den Alltag zur Verfügung zu stellen. «Wir betreiben eine engagierte, partizipative Forschung. Wir gehen auch raus und sprechen mit Leuten, die einen normalen nicht-akademischen Alltag leben», sagt Amir Dziri. «Am Ende ist es ein intensiver Austausch, bei dem wir eine akademische Expertise anbieten, die im Alltag selbst Orientierung schafft. So Übernehmen wir gesellschaftliche Verantwortung, indem wir die Diskussion mit abgesicherten Befunden von Leuten begleiten, die sich systematisch mit den jeweiligen Fragen auseinandergesetzt haben.»
Geschlechtliche und sexuelle Diversität ebenfalls Thema
Der Begriff Diversität ist derzeit in westlichen Gesellschaften oft in erster Linie mit sexuellerund geschlechtlicher Diversität konnotiert. Im Projekt des SZIG steht das Thema zwar nicht im Vordergrund, ist aber durchaus präsent. «Das Geschlecht ist eine wichtige Ressource im Orientierungsprozess. Gender und Transidentität sind Teil der Erfahrungen, die junge Muslime machen, und es ist deshalb wichtig zu verstehen, wie islamisch-theologische Überlegungen mit diesen Herausforderungen umgehen, ohne dass wir davon ausgehen, dass sie unvereinbar sind», erklärt Sébastien Dupuis.
«Die jungen Menschen müssen sich gegen viele Einflüsse wehren. Natürlich gibt es islamische Auslegungen, die restriktiv sind, bestimmte Idealliteratur, die von Ausschlüssen ausgeht, wenn es um die sexuelle Orientierung und das Muslimischsein geht», sagt Amir Dziri. «Diversität und Hybridität sind Realitäten Jahrhunderte alter muslimischer Kulturgeschichte, und das ist auch heute nicht anders. Das gehört zu den wichtigen Grundannahmen innerhalb des Projekts.»
Ohne Scheuklappen
Es ist eine Herangehensweise ohne Scheuklappen. «Wir leben in Zeiten von Informationsüberfluss. Das gilt auch in Bezug auf islamische Orientierungsangebote. Im Internet gibt es sehr viele verschiedene Meinungen, dazu gehören auch autoritative Stimmen», sagt Dominik Müller. «Die vielen verschiedenen Blickwinkel können zu Überforderung führen. Diese Komplexität, sowie der mediale und politische Druck, der auf muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz lastet, der auch mit Stigmatisierung und Vorverurteilung einhergeht, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Gemeinschaft auf den Status quo zurückgreift.»
Dem will das Projekt, das noch bis 2026 läuft, entgegenwirken. Was möchten die Forschenden dannzumal rückblickend sagen können? «Dass wir mitgeholfen haben, die Diskussion weg von einer defizitzentrierten hin zu einer ressourcenorientierten Betrachtung zu führen», sagt Müller. Und Dupuis ergänzt: «Dass wir es geschafft haben, die Komplexität der Frage in den Vordergrund zu rücken.» Letztlich versucht das Projekt aufzuzeigen, was der Islam eben auch ist: divers!
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Matthias Fasel ist Gesellschaftswissenschaftler, Sportredaktor bei den «Freiburger Nachrichten» und freischaffender Journalist.