Können verletzte Nerven wieder wachsen?

Können verletzte Nerven wieder wachsen?

Sind Nerven im Rückenmark durch einen Unfall einmal durchtrennt, wachsen sie nicht mehr nach. Das sogenannte Nogo-Eiweiss hindert die Regeneration von verletzten Nervenzellen im Rückenmark und im Hirn. Doch nun wurde ein neues Medikament entwickelt, um Querschnittgelähmte zu behandeln. Die präklinischen Ergebnisse sind viel versprechend. Der Wirkstoff wird jetzt in gross angelegten klinischen Studien am Menschen getestet.  

1989 fand der Hirnforscher Martin Schwab, wonach er ursprünglich gar nicht gesucht hatte: Statt eines Wirkstoffs, der das Nervenwachstum im Zentralen Nervensystem begünstigte, entdeckte er einen Hemmstoff, der verhindert, dass diese nachwachsen. Das obstruktive Eiweiss bekam den Namen «Nogo».

Die Forschung wurde daher darauf konzentriert, einen Antikörper gegen Nogo zu finden, um Nogo auszuschalten und dadurch das Nervenwachstum zu ermöglichen. Was Martin Schwab und seinem Team auch tatsächlich gelang. «Als wir die ersten Antikörper hatten, haben wir diese in Zellkulturen mit Sehnerven gespritzt. Und plötzlich wuchsen da hunderte von Nervenfasern», erinnert sich Schwab.

Ziel: Medikament entwickeln

Als erste Versuche mit rückenmarksverletzten Ratten diese positiven Resultate bestätigten, unterbreitete Schwab das Projekt ehemaligen Studienkollegen, die mittlerweile in der Industrie arbeiteten. Diese winkten jedoch ab: zu riskant. Statt bei einem etablierten Schweizer Pharmaunternehmen landete Schwab deshalb bei einem amerikanischen Biotech-Unternehmen, das die Lizenz für die Verwertung erwarb. Nach ein paar Jahren war aber Schluss, weil der Firma das Geld ausging. Schwab musste auf eigene Faust weiter arbeiten, bis sich 1999 schliesslich Novartis für sein Projekt erwärmen konnte. Damit begann eine achtjährige intensive und sehr erfolgreiche Zusammenarbeit, die das Projekt bis an die klinische Phase, die vor zwei Jahren gestartet werden konnte, heranführte. Das Medikament steht nun vor der klinischen Phase 2, die seine Wirksamkeit beim Menschen zeigen soll.

Durchbruch in der Forschung

Wenn das Medikament die erwünschte Wirkung hat, wäre das ein «Riesendurchbruch bei der Behandlung von querschnittgelähmten Patienten», sagt der Direktor des Paraplegikerzentrums der Universitätsklinik Balgrist, Armin Curt. Die Universitätsklinik hat zusammen mit Schwab die grosse, international vernetzte Studie aufgebaut, an der sich mittlerweile rund 20 Kliniken in Europa und Kanada beteiligen. Ziel der Studie ist es, zu zeigen, ob die Nogo-Antikörper, die bisher an Ratten und Affen mit Erfolg getestet wurden, auch beim Menschen wirksam sind. Die Studie wäre dann erfolgreich, wenn nachgewiesen werden könnte, dass dank der Antikörper verletzte Nerven im Rückenmark nachwachsen. Das wäre eine medizinische Sensation, denn bisher gibt es keine vergleichbare Therapie.

Vielversprechende Resultate

Wie die erste Phase der klinischen Studie zeigt, scheint es bei der Behandlung keine unerwünschten Nebenwirkungen zu geben. Die zweite Phase soll nun zeigen, wie gut die Behandlung mit Nogo-Antikörpern wirkt. «Wir haben bereits einige sehr gute Effekte gesehen», verrät Armin Curt, «können aber noch nicht sagen, ob diese statistisch signifikant sind.» Curt warnt vor überzogenen Erwartungen: «Realistischerweise kann es nicht das Ziel sein, dass aus den Gelähmten wieder Fussballer und Tänzer werden. Es wäre schon ein grosser Erfolg, wenn es Verbesserungen der Bewegungsfähigkeit um 10 bis 20 % geben würde.»

Können Gelähmte wieder gehen?

Die entscheidende Frage ist, ob und in welchem Umfang querschnittgelähmte Patienten einen Teil ihrer motorischen Fähigkeiten wieder zurückgewinnen können. Falls das Nervenwachstum tatsächlich erfolgreich stimuliert werden kann, könnte der Wirkstoff auch für andere Verletzungen des Zentralen Nervensystems wie etwa Schlaganfälle eingesetzt werden. Damit würden sich medizinisch und auch kommerziell noch einmal ganz neue Horizonte öffnen. Und Schwab könnte eine Frage endgültig beantworten, die Mediziner/innen seit rund 100 Jahren kontrovers diskutieren: Können verletzte Nervenfasern des Zentralen Nervensystems, das heisst des Gehirns und des Rückenmarks, regenerieren?

Kontakt

Martin Schwab,  Tel. +41 44 635 3331, Email: schwab [at] hifo.uzh.ch

Quelle

UHZ