Viele Patienten leiden nach einem Schlaganfall an Neglekt, einer Aufmerksamkeitsstörung. Nun zeigt sich, dass an sie mit magnetischen Feldern behandeln kann.
Plötzlich existiert nach einem Schlaganfall nur noch die rechte Strassenseite. Die linke Körperhälfte verschwindet aus dem Bewusstsein. Das Essen auf der linken Seite des Tellers bleibt unbeachtet liegen. Und nach der Rasur sind nur die Bartstoppeln auf der rechten Hälfte des Gesichts gestutzt. Neglektpatienten nehmen die Welt wortwörtlich einseitig wahr.
Neglekt ist eine Aufmerksamkeitsstörung. Sie entwickelt sich bei fast der Hälfte aller Personen, deren rechte Hirnhälfte durch einen Schlaganfall in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Neglekt wird bisher mit verschiedenen kognitiven Trainingsmethoden behandelt, leider nur mit mässigem Erfolg.
Auch wenn vor allem die rechte Hälfte des Hirns für die Aufmerksamkeit verantwortlich zeichnet, so buhlten im unbeschädigten Hirn doch beide Hälften um den Zugang ins Bewusstsein und hemmten sich dadurch gegenseitig, sagt Thomas Nyffeler, leitender Arzt an der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals Bern. Wenn der Schlaganfall aber eine Hälfte verletze, stelle sich ein Ungleichgewicht in der Aktivität der beiden Hirnhälften ein. Dann halte die verletzte rechte Hälfte die linke nicht mehr in Schach. Entfesselt hemmt diese nun um so stärker die verletzte Hälfte und setzt sie schliesslich im Kampf um die Aufmerksamkeit vollends ausser Gefecht. Nyffeler versucht, das Gleichgewicht zwischen den Hirnhälften wieder herzustellen. Weil sich die Schäden, die der Schlaganfall rechts angerichtet hat, nicht reparieren lassen, muss Nyffeler die linke Hirnhälfte bremsen – wie bei Patienten, deren Neglekt nach einem zweiten Schlaganfall in der linken Hirnhälfte wieder verschwindet. «Aber selbstverständlich möchten wir die linke Hirnhälfte nicht dauerhaft schädigen», sagt Nyffeler. Seine Methode ist subtiler: Mit einer Magnetspule in der Grösse eines Tischtennisschlägers setzt er die linke Hirnhälfte während Sekundenbruchteilen wiederholt starken Magnetfeldern aus. Über elektromagnetische Umwandlungen führt dies zu elektrischen Strömen und also Nervenreizen im Hirn, welche die Aktivität eines Hirnareals reduzieren können.
Komplett nebenwirkungsfrei
Den Ansatz hat Nyffeler an elf Patienten getestet. Er spricht von ermutigenden Resultaten. Denn einerseits erwies sich die Methode als komplett nebenwirkungsfrei: Niemand klagte über Kopfschmerzen oder Übelkeit, und einige Patienten hätten von der Magnetstimulation nicht einmal Kenntnis genommen. Andererseits schnitten die Patienten in Aufmerksamkeitstests am Bildschirm auch noch am nächsten Tag besser ab als vor der Stimulation. Dass Hirnströme auch so lange Zeit nach der Magnetstimulation noch unter deren Einfluss stehen, hat noch niemand zeigen können. Wahrscheinlich beruht die lang anhaltende Wirkung auf physiologischen Veränderungen und neu angepassten Nervenverknüpfungen im Hirn, vermutet Nyffeler. Er hofft, dass die Magnetstimulation inskünftig die herkömmliche Neglektbehandlung ergänzen wird. Das sei umso wichtiger, als sich ein Neglekt negativ auf die Erholung nach einem Schlaganfall auswirke. Damit würden die Magnetfelder den Patienten nicht nur wieder eine andere Seite der Welt erschliessen. Dank ihnen könnten die Patienten früher aus dem Spital entlassen werden und denn Alltag nach dem Schlaganfall selbstständiger meistern.
Ori Schipper
Dieser Artikel ist im Schweizer Forschungsmagazin "Horizonte" Nr. 87 erschienen, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) herausgegeben wird. Sie können das Magazin gratis abonnieren.