Die Welt wird mehr denn je von Katastrophen bedroht. Mit wissenschaftlicher Hilfe will man die Risiken abwenden. Das ist nicht so rational, wie es scheint.
Die Welt sieht sich mit immer mehr Bedrohungen konfrontiert: mit Epidemien, Finanzkrisen, Atomsprengköpfen – und natürlich der Klimakatastrophe. Die meisten sind menschlichen Ursprungs und global. Dadurch unterscheiden sie sich von früheren Gefährdungen menschlichen Lebens: Während beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, an Hunger oder kurz nach der Geburt zusterben, dank Industrialisierung und medizinischem Fortschritt wenigstens in der westlichen Welt gegen Null gesunken ist,tangieren die Auswirkungen der Klimaerwärmung heute die ganze Welt.
Der Münchner Soziologe Ulrich Beck gab schon 1986 (im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl) zu bedenken, dass die Menschen das erste Mal in ihrerlangen Geschichte mit der «Herausforderung der entscheidungsabhängigen, industriellen Selbstvernichtungsmöglichkeit allen Lebens auf Erden konfrontiert» seien. Deshalb lebten wir, wie Beck mit seiner so eingängigen wie erfolgreichen Begriffsschöpfung konstatierte, in der «Risikogesellschaft». Diese beunruhigende Diagnose verlangte und verlangt mehr denn je nach Massnahmen. Auch wenn Umweltschutzorganisationen der Ansicht sind, die Politik müsste die Probleme viel schneller und entschlossener angehen – zunehmend scheint sich ein vernünftiger Umgang mit den Risiken durchzusetzen. Die Gesellschaft suche durch «rationale Kalkulation», wie derSoziologe Niklas Luhmann 1991 bereits analysierte, als untolerierbar erachteteSchäden beziehungsweise die diese verursachenden Handlungen zu vermeiden,während sie die als tragbar eingestuften weiterhin zulasse.
Heulende Winde, bebende Erde
Nach Luhmann ersetzt die rationale Kalkulation des Risikos «alle kosmologischen Limitationen, Wesenskonstanten und Geheimnisse der Natur», die in früheren Kulturen Geltung gehabt hätten. Was heute Risiko heisst, war einst die Domäne des Himmels, der heulenden Winde und bebenden Erde. Mit Opfern suchten die Menschen die gefürchteten Naturmächte zu besänftigen. Noch die Vormoderne deutete Naturkatastrophen und Unglücke wie etwa Stadtbrände theologisch als überweltliche Manifestationen. Während der Protestantismus eher dazu neigte, etwa in einem Erdbeben Gottes Wirken zu sehen,der seine Macht als Herr der Naturdemonstriere, sah der Katholizismus denTeufel am Werk. In beiden Fällen jedoch rief das Unglück in den Augen der Priester nach mehr menschlicher Andacht und Frömmigkeit.
Das ist heute anders. Die Politik schliesst Klimaverträge ab, die eingehalten werden (oder auch nicht). Die Wissenschaften beschäftigen sich vermehrt mit
Risikoforschung; so will die ETH Zürich in den nächsten Jahren mit 50 Millionen Franken ein weltweit führendes Zentrum für integrative Risikoforschung und
-management aufbauen. Der ökologisch sensibilisierte Bürger schliesslich bemüht sich im Alltag redlich, den Abfall nach vorgegebenen Kriterien zu trennen und im Winter die Raumtemperatur nicht zu hoch ansteigen zu lassen.
Die These des zunehmend rationalen Umgangs mit steigenden Risiken erachtet der Genfer Historiker François Walter jedoch als unplausibel: «Der heutige
Umgang mit den sogenannten Risiken erscheint rational, zumal er wissenschaftlich untermauert auftritt, ist aber im Grunde höchst irrational.» Er zieht gleich
mehrere Parallelen: Habe man früher auf dem Gebiet der Sexualität gesündigt, indem man bestimmte Gebote und Normen übertreten habe, so vergehe man sich heute auf dem Feld der Ökologie: «Wer seinen Abfall falsch oder gar nicht trennt, lädt eine moralische Schuld auf sich.»
Um die Seele zu entlasten, greife man gar auf das bewährte vorreformatorische Mittel des Ablasses zurück: Wer fliegen, sich aber nicht schuldig machen möchte, kaufe sich vorher das Zertifikat der CO2-Neutralität, sagt Walter. Die wissenschaftliche Expertise habe die Astrologie abgelöst, die versicherungsprämie das Opfer, an die Stelle der Propheten seien die Naturwissenschaftler getreten: «Wir leben heute im Zeitalter des Ökopessimismus, in einer Ära der Angst vor Naturkatastrophen.» In diesem Punkt würden wir uns kaum von den Gesellschaften unterscheiden, die sich um das Jahr 1000 vor dem Weltende und dem göttlichen Gericht fürchteten. In der Klimaerwärmung sieht François Walter einen weiteren Beleg dafür, dass wir keineswegs in einer aufgeklärten Zeit lebten: «Die Klimaerwärmung hat den Status eines theologischen Dogmas inne.»
Wer nicht an sie als eine unwiderrufliche Tatsache glaube, sei ein Häretiker. Dabei gebe es in der Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten; jedes Wissen sei
immer nur ein vorläufiges. Man dürfe die wissenschaftlichen Hypothesen nicht mit der Realität verwechseln. Der Historiker erinnert an ein Phänomen, das sowohl die Naturwissenschaften als auch die Medien schlicht vergessen hätten: Noch in den siebziger Jahren habe man sich vor dem «global cooling» gefürchtet. Damals kamen Klimaforscher zum Schluss, dass anthropogene Aeorosol-Emissionen eine globale Abkühlung des Klimas verursacht hätten und weiter verursachen würden. Manche prognostizierten das Absinken der globalen Durchschnittstemperatur um drei Grad Celsius und warnten vor einer neuen Eiszeit.
Waren diese Hypothesen innerhalb der Wissenschaftswelt umstritten, griffen die Medien diese apokalyptischen Szenarien um so begieriger auf. Der «Spiegel» schrieb 1974 von einer «Katastropheauf Raten» und der «Vereisung in denAlpen» (die Gletscher würden wieder wachsen), 1975 titelte die «New York
Times», dass ein «major cooling» unabwendbar sei.
In Erwartung der Bestrafung
François Walter leugnet die noch nie dagewesene Bedrohung unseres Planeten– sei es durch die Erwärmung der Erdatmosphäre oder nukleare Sprengköpfe –keineswegs. Er ist kein Klimaskeptiker und erachtet die Ergreifung von Massnahmen gegen die Erwärmung als dringlich. Der Historiker ist vielmehr ein Skeptiker, der die wichtigste Aufgabe der Geisteswissenschaften in ihrer aufklärerischen Rolle sieht.
Die «Risikogesellschaft» ist eine Gesellschaft, die sich in nie dagewesenem Masse mit neuen, global drohenden Gefahren auseinandersetzen muss. Aber
die «Risikogesellschaft» ist auch eine Gesellschaft, in der religiöse Impulse wie das Tabu und die Sünde wieder an Einfluss gewinnen. In der scheinbar säku-
larisierten «Risikogesellschaft» werden die Konturen einer spirituellen Gesellschaft sichtbar, in der sich die Menschen nach wie vor in religiösen Dimensionen
mit dem Sinn des Lebens beschäftigen, mit der Angst vor der Sünde, mit der Lust an der Übertretung, in Erwartung der Bestrafung.
Urs Hafner
Dieser Artikel ist im Schweizer Forschungsmagazin "Horizonte" Nr. 83 erschienen, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) herausgegeben wird. Sie können das Magazin gratis abonnieren.