Wie nützlich ist die Lachs-DNA in meiner Anti-Falten-Crème, und soll ich meinen Kindern Fischölkapseln zur Förderung der schulischen Leistungen geben? Wenn Homöopathie gemäss Schulmedizin nichts nützt, weshalb gibt es dennoch Studien, die deren Erfolg nachweisen? Dies alles weiss man, nachdem man Ben Goldacres Buch “Die Wissenschaftslüge” gelesen hat. Eine Rezension.
Wir kennen die Situation: Wir haben soeben in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gelesen, dass die Wirkungsweise eines Mittels widerlegt wurde, doch in der Werbung und in der Presse wird laufend das Gegenteil suggeriert. Wir befassen uns seit längerem mit einem wissenschaftlichen Thema, dennoch erklärt uns die Nachbarin, dass wir ganz falsch liegen. Sätze wie “Die sind doch alle von der Pharmaindustrie bezahlt” oder “Man weiss doch schon lange, dass ...” bekommt man in Disukussionen oft zu hören – entgegen jeder wissenschaftlichen Evidenz.
Ben Goldacre hat dieser Pseudowissenschaftlichkeit den Kampf angesagt. Der ausgebildeter Psychiater und Medizinjournalist schreibt bereits seit mehreren Jahren im britischen “Guardian” Kolumnen zu diesem Thema. Nun ist ein Buch daraus entstanden, das im Januar auf deutsch erschienen ist.
Korrekte Studien vs Pseudowissenschaftlichkeit
“Heutzutage sehen sich Naturwissenschaftler und Ärzte einem Heer von Menschen gegenüber, die sich anmassen, wissenschaftliche Forschung beurteilen zu können [...], ohne sich vorher auch nur die Grundkenntnisse über ein gegebenes Thema angeeignet zu haben, ” schreibt der Autor. Er ist aber weder ein Vertreter der Pharmaindustrie, der systematisch über Alternativmedizin herzieht, noch ist er ein Anhänger irgendeiner Glaubensrichtung, die die gewinnorientierte Pharma- und Kosmetikindustrie verteufelt. Auch wird nicht die sogenannte Schulmedizin gegen eine Alternativmedizin ausgespielt oder umgekehrt. Vielmehr beleuchtet Goldacre Vorgänge, die offensichtlich oder versteckt eine Wissenschaftlichkeit vortäuschen, die nicht vorhanden ist. Dem stellt Goldacre die tatsächliche Wissenschaft gegenüber. Er erklärt, was eine methodologisch korrekte Studie ausmacht im Gegensatz zu fehlerhaften oder unvollständigen Studien. Er entlarvt in der Werbung benützten Tricks und zeigt, wie ganz gewöhnliche Ingredienzen als hochwissenschaftlich geprüfte Wirkstoffe angeboten werden.
Krimi über Werbetricks und Placebo
Goldacre serviert uns aber keine trockene Wissenschaftstheorie, sondern zeigt viele konkrete Beispiele aus dem Alltag. Man erfährt, dass keine einzige wissenschaftlich korrekte Studie bisher die Wirksamkeit von Homöopathie nachweisen konnte. Hingegen macht der Placebo-Effekt vieles wett: Zwei Zuckerpillen nützen besser als eine, eine Spritze mit Salzwasserlösung ist wirksamer als eine Zuckerpille und Kapseln heilen besser als Tabletten. Alles Placebo-Präparate, wohlverstanden. Hingegen konnte die Wirkung von Vitaminen auf unser Immunsystem bisher nicht nachgewiesen werden, und der Griff zum Multivitaminpräparat bei der nächsten Erkältungswelle nützt höchstens dem Hersteller. Ausser natürlich, der Placebo-Effekt schaltet sich ein. Der Autor zeigt auch auf, dass viele alternative Heilmethoden suggerieren, Patient/innen ganzheitlich zu behandeln und nicht wie die Schulmedizin nur die Symptome zu bekämpfen. Doch die meisten Alternativmediziner/innen können die Wirkungsweise ihrer Behandlung gar nicht erklären. Wir erfahren weiter, dass Werbetexte oft mit wissenschafltich komplizierten Wörtern gespickt werden, um ihnen eine Wissenschaftlichkeit zu verleihen, die nicht vorhanden ist: Aussagen mit komplizierten Begriffen aus der Forschung werden von Laien als glaubwürdiger eingestuft, selbst wenn die Aussagen falsch sind oder nicht verstanden werden. Aber auch mit wissenschaftlich korrekten Studien werden laufend falsche Erwartungen generiert: Beeinflusst ein Nahrungsergänzungsmittel gewisse Blutwerte, heisst das noch lange nicht, dass dies vor Krankheiten schützt.
Altbekanntes in neuem Licht
Gerade Wissenschafler/innen oder in der Medizinischen Forschung tätigen Personen mag zwar Einiges aus Goldacres Buch bereits bekannt sein. Werbung für Antifaltencrèmen belächeln sie seit langem, und Studien ohne Kontrollgruppe nehmen sie sowieso nicht ernst. Trotzdem wirft das Buch ein erfrischend neues Licht auf die weit verbreitete Pseudowissenschaftlichkeit und liest sich stellenweise wie ein Krimi.
Vorwerfen mag man dem Autor die zum Teil etwas grobe Sprache. Allerdings ist nicht klar, wie viel zu Lasten der Übersetzung geht, die nicht immer gelungen zu sein scheint. Goldacre macht aber unmissverständlich klar, was er von Pseudowissenschaftlern hält, und er geht mit ihnen hart ins Gericht. Er scheint sich eine Riesenwut vom Bauch zu schreiben. Dies mag vordergründig den Eindruck einer gewissen Subjektivität erwecken, und stellenweise wünscht man sich eine distanziertere Darstellung der Fakten, die auch ohne die laufenden Kommentare des Autors auskämen. Dies ändert aber nichts daran, dass Goldacres Aussagen ausnahmslos auf gut recherchierten, nachweisbaren Fakten basieren. Das Buch - in Grossbritannien ein Bestseller - ist daher Wissenschaftler/innen sowie Laien als Lektüre zu empfehlen.
Corina Wirth
Ben Goldacre: Die Wissenschaftslüge. Die pseudo-wissenschaftlichen Versprechungen von Medizin, Homöopathie, Pharma- und Kosmetikindustrie. 420 Seiten, Fischer (TB.), Frankfurt. ISBN-10: 3596185106, ISBN-13: 9783596185108