Erdbeben: Zerstörerische Kräfte kontrollieren

Hält ein neu entwickeltes Baumaterial einem Erdbeben stand? Am Departement Technik & Architektur wird unter anderem geprüft, bei welchen Erschütterungen sich erste Risse zeigen und bis wann eine Mauer stabil bleibt.

Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums Konstruktiver Ingenieurbau untersucht Mauer zwischen zwei Tests.

Die Backsteinwand ist knapp zweieinhalb Meter hoch und drei Meter breit. Zwei Wochen zuvor hat ein Maurer sie sorgfältig aufgebaut. Heute zerstört das Team des Kompetenzzentrums Konstruktiver Ingenieurbau sie genau so sorgfältig: Ein Betonriegel oben an der Mauer wird mit Hilfe einer imposanten Metallvorrichtung - es handelt sich um einen «servohydraulischen Zug-Druck-Gleichganzylinder» - ganz leicht seitwärts verschoben; Druck und Bewegung erzeugen eine Belastung, die der eines Erdbebens entspricht. Der Computer registriert die Intensität jeder Bewegung. Ein dumpfes Geräusch ist zu hören, dann herrscht wieder Stille, als wäre nichts gewesen. So sieht es auch aus, mindestens auf den ersten Blick.

Hartwig Stempfle, Leiter des Kompetenzzentrums, und sein Team wollen es jedoch genau wissen. Von oben bis unten untersuchen sie die Mauer, im hellen Licht ihrer Taschenlampen entdecken sie auch kleinste Risse im Mauerwerk. Sie markieren sie und halten das Ergebnis fotografisch fest, bevor das Zerstörungswerk in die nächste und übernächste Runde geht - mit immer stärkerer Intensität - so lange, bis die Mauer schliesslich zerstört ist. Wir befinden uns am Prüfstand des Departements Technik & Architektur der Hochschule Luzern. Mitarbeitende testen hier unterschiedlichstes Mauerwerk auf seine Resistenz gegenüber Erschütterung und Belastung.

Unvorhersehbare Kräfte

Am Kompetenzzentrum wird jedoch nicht nur getestet - die Mitarbeitenden entwickeln gemeinsam mit Industriepartnern auch neue Möglichkeiten, Baumaterial zu verwenden. Kalksandstein zum Beispiel hat viele Vorzüge: Die Rohstoffe dafür kommen in Mitteleuropa in der Natur vor; Abbau, Transport, Herstellungsprozess und Entsorgung der Steine brauchen relativ wenig Energie. Darüber hinaus weisen sie eine hohe Dichte auf und isolieren gut gegen Schall. Kalksandstein wäre also in unseren Breitengraden ein ideales Material für den Hausbau.

Wäre da nicht ein Haken: Den Belastungen eines Erdbebens ist Mauerwerk aus Backstein oder Kalksandstein schlecht gewachsen. Das ist ein Problem, denn nach Einschätzung des Schweizerischen Erdbebendiensts weist die Schweiz im Vergleich mit anderen europäischen Ländern zwar nur eine mittlere Erdbebengefährdung auf. Trotzdem gelten Erdbeben hierzulande als die Naturkatastrophe mit dem grössten Schadenspotenzial - verheerender als zum Beispiel Überschwemmungen. Am stärksten gefährdet ist das Wallis, gefolgt von Basel, Graubünden, dem St. Galler Rheintal und der Zentralschweiz. Wann sich wo ein wie starkes Erdbeben ereignen wird, lässt sich trotz aller Bemühungen nicht vorhersagen. Deshalb beschäftigt sich das Kompetenzzentrum Konstruktiver Ingenieurbau damit, wie man Mauern so baut, dass sie dem Unvorhersehbaren standhalten.

Verstärkung von innen

Für den Baustoff Kalksandstein schlugen die Luzerner Forscher der Aargauer Firma Hunziker eine Verstärkung der Mauer mit Bewehrungsstäben vor. Aufgabe des Kompetenzzentrums war es nun herauszufinden, wie genau Kalksandstein und Bewehrung optimal kombiniert werden können, um eine Vergrösserung des Erdbebenwiderstandes zu erreichen. In einem ersten Schritt entwickelte das Team ein Berechnungsmodell für das Verhalten der Materialien im Falle eines Erdbebens. Vier anschliessende Versuche am Prüfstand - das Format der Steine variierte dabei - dienten dann dazu, das komplexe Rechenmodell zu überprüften. Die Resultate bestätigten seine Korrektheit. Sie bestätigten damit auch, dass in Gegenden mit der höchsten Erdbeben-Gefährdung, also um Basel und im Wallis, die einwirkenden Kräfte für das verbesserte System noch immer zu gross sein dürften. In den restlichen Gebieten der Schweiz mit geringerer Erdbeben-Gefährdung kann das Material jedoch verwendet werden.

«Unsere Arbeit am Prüfstand soll den Fachleuten in der Praxis zugutekommen.»

Hartwig Stempfle

«Letztlich soll die Arbeit am Prüfstand den Ingenieurinnen und Ingenieuren zugutekommen, denn sie müssen sicherstellen, dass ein geplantes Gebäude tatsächlich den Herausforderungen eines Erdbebens standhalten kann», sagt Hartwig Stempfle. Um die Resultate zugänglich zu machen, werden die Algorithmen in eine kommerzielle Software eingespeist, welche bereits eine Fülle von Information zu verschiedenen Materialien enthält. Dank der Berechnungen und Tests der Luzerner Ingenieurinnen und Ingenieure kann diese Software nun um detaillierte Angaben zu Kalksandstein mit Bewehrung erweitert werden und Ingenieurbüros können damit Berechnungen für die geplanten Gebäude durchführen.

Mitarbeitende testen am Prüfstand des Departements Technik & Architektur unterschiedlichstes Mauerwerk auf seine Resistenz gegenüber Erschütterung und Belastung.