Durch die Verdopplung des Erbguts können Zellen neue Funktionen erhalten. Dieser Prozess bringt möglicherweise neue Zelltypen mit einzigartigen Eigenschaften hervor. Forschende der Universität Basel haben nun in Fischen nachweisen können, dass durch Genverdopplungen neue Zelltypen entstehen, und untermauern damit eine klassische evolutionsbiologische Theorie.
Mit seinen Hunderttausenden Nervenzellen erreicht das Gehirn bei Wirbeltieren die grösste Komplexität im Tierreich. Im Verlauf der Evolution von Wirbeltieren nahm nicht nur die Zahl an Nervenzellen und damit das Volumen des Gehirns zu, sondern auch die Menge und Vielfalt verschiedener Zelltypen mit unterschiedlichsten Funktionen. Weitgehend ungeklärt war jedoch die Frage, wie diese unglaubliche Vielfalt an Zellen entstand und wie sehr sich das Repertoire an Zelltypen zwischen den Tierarten unterscheidet.
Genetische Diversität führt zu neuen Zelltypen
Um dem auf den Grund zu gehen, hat Dr. Maxwell Shafer im Labor von Alex Schier am Biozentrum der Universität Basel bei verschiedenen Fischarten und bei Varianten derselben Art den Hypothalamus untersucht. Diese Hirnregion steuert unter anderem den Schlaf-Wach-Rhythmus, aber auch das Hungergefühl und Sozialverhalten.
’Wir haben herausgefunden, dass einige Nervenzelltypen und die dafür verantwortlichen Gene artspezifisch sind’, sagt Shafer, Erstautor der Studie. ’Die Evolution arbeitet mit dem genetischen Material. Wir zeigen, dass die Entstehung neuer Gene mit der Evolution neuer Zelltypen verbunden ist. Unsere Ergebnisse lassen Überlegungen zu, dass diese Zelltypen neue artspezifische Verhaltensweisen hervorbringen.’
Artspezifische Nervenzelltypen zur Eroberung neuer Lebensräume
Für ihre Studie haben die Wissenschaftler den Zebrafisch mit dem blinden höhlenlebenden Salmlerfisch verglichen, zwei Arten, deren letzter gemeinsamer Vorfahre vor etwa 150 Millionen Jahren lebte, bevor der Urkontinent Pangäa auseinanderbrach. Sie haben im Hypothalamus der Fische etwa 200 verschiedene Nervenzelltypen identifiziert, etwa 25 Prozent davon waren artspezifisch.
Überrascht hat die Forschenden jedoch mehr der Vergleich des blinden Höhlenbewohners mit seinem Artgenossen, der an der Gewässeroberfläche lebt und sehen kann. Trotz der geringen Zeitspanne von nur 250'000 Jahren in der sich diese beiden Varianten getrennt entwickelten, unterscheiden sich die beiden Zelltypen bereits um etwa 10 Prozent. ’Wir hatten erwartet, dass sich die Zelltypen bei Fischen derselben Art viel weniger voneinander unterscheiden’, so Shafer. ’Die Evolution bei den Nervenzellen könnten dem Salmler dabei geholfen haben, sich an das Höhlenleben anzupassen.’
Von zellulärer Diversität zu Verhalten
Im Laufe der Evolution entwickelte der blinde Salmlerfisch im Vergleich zu seinem sehenden Artgenossen ganz eigene Verhaltensweisen. So kommt er ohne Schlaf aus, ist unablässig auf der Suche nach Nahrung und er lebt nicht im Schwarm, sondern als Einzelgänger. Die 10 Prozent unterschiedlichen Nervenzelltypen im Hypothalamus gibt Anhaltspunkt, wie es dem blinden Salmler gelang in dunklen Höhlen zu leben.
Eine Schlüsselrolle bei solchen Anpassungsprozessen könnte die Verdopplung von Genen spielen. Diese Gen-Kopien werden an die nächste Generation weitergegeben und verändern sich über die Zeit. ’Die Zellen bekommen dadurch möglicherweise neue Funktionen, wodurch sich neue Zelltypen mit neuem Verhalten herausbilden könnten’, sagt Studienleiter Alex Schier. ’Unsere Studie bestätigt die bekannte Theorie, dass die Evolution durch Genverdopplungen vorangetrieben wird.’
Originalpublikation
Maxwell E.R. Shafer, Ahilya N. Sawh, Alexander F. Schier.
Gene family evolution underlies cell type diversification in the hypothalamus of teleosts.
Nature Ecology & Evolution (2021), doi: 10.1038/s41559-021-01580