Zwölf Jahre Vorarbeit tragen nun Früchte - Forschende der Empa haben besondere Materialien aus Kohlenstoff mit ganz erstaunlichen, bislang unerreichten elektronischen und magnetischen Eigenschaften entwickelt, aus denen etwa Quantencomputer gebaut werden könnten. Ein Förderbeitrag der Werner Siemens-Stiftung in Millionenhöhe für die nächsten zehn Jahre ermöglicht bei diesem visionären Projekt nun einen ungewöhnlich langen Forschungshorizont, der die Aussichten auf Erfolg erheblich erhöht.
Ein aussergewöhnlich grosser Förderbeitrag wird es einem Forscherteam der Empa in den nächsten Jahren erlauben, besonders fokussiert an einem ehrgeizigen Projekt zu arbeiten: Mit 15 Millionen Franken unterstützt die Werner Siemens-Stiftung (WSS) die Empa im Projekt «CarboQuant». Dieses soll die Grundlagen für neuartige Quantentechnologien schaffen, die sogar bei Raumtemperatur funktionieren können - im Gegensatz zu den derzeitigen Technologien, die zumeist Kühlung bis nahe dem absoluten Nullpunkt benötigen. «Wir wagen mit diesem Projekt einen grossen Schritt ins Unbekannte», sagt Projektkoordinator Oliver Gröning. «Dank der Partnerschaft mit der Werner Siemens-Stiftung können wir uns in diesem Projekt deutlich weiter vom sicheren Ufer wegbewegen, als es uns im «normalen» Forscheralltag möglich wäre. Wir fühlen uns ein bisschen wie Christoph Columbus und suchen nun jenseits des Horizonts nach etwas völlig Neuem.»
Vor der Expedition ins Unbekannte, die die Forschenden Pascal Ruffieux, Oliver Gröning und Gabriela Borin-Barin unter Leitung von Roman Fasel nun unternehmen, lagen indes zwölf Jahre intensive Forschungsarbeit. Die Arbeiten aus der von Fasel geleiteten Empa-Abteilung «nanotech@surfaces» führten regelmässig zu Veröffentlichungen in renommierten Wissenschaftsjournalen wie «Nature», «Science» und «Angewandte Chemie».
2010 hatte das Team erstmals Graphenstreifen, sogenannte Nanoribbons, aus kleineren, chemischen Vorläufermolekülen synthetisiert. Mit ihrem neuartigen Syntheseansatz können die Forscher Kohlenstoff-Nanomaterialien mit atomarer Präzision herstellen und dadurch deren Quanteneigenschaften genau festlegen. Graphen gilt als ein mögliches Baumaterial für Computer der Zukunft; es besteht aus Kohlenstoff und ähnelt dem bekannten Graphit. Das Material ist gerade einmal eine Atomlage dünn und verspricht schnellere, leistungsfähigere Rechnerarchitekturen als die heute bekannten Halbleitermaterialien. Bereits 2017 hatte das Forscherteam in Zusammenarbeit mit Kollegen der «University of California» in Berkeley den ersten Transistor aus Graphen-Nanoribbons gebaut und das Ergebnis in «Nature Communications» veröffentlicht.
Doch dann realisierten die Forscher einen bislang nur theoretisch vorhergesagten Effekt, der noch wesentlich interessanter schien: Ihre winzigen, massgeschneiderten Kohlenstoff-Nanomaterialien zeigten Eigenschaften von Magnetismus. 2020 berichteten sie im Fachblatt «Nature Nanotechnoloy» erstmals über den von ihnen entdeckten Effekt - und legten im Oktober 2021 mit einer verfeinerten Darstellung nach: Nun hatten sie mit Hilfe ihrer winzigen Kohlenstoff-Nanomaterialien erstmals einen physikalischen Effekt nachgewiesen, den der spätere Physik-Nobelpreisträger F.D.M. Haldane knapp 40 Jahren zuvor vorausgesagt hatte: die Spin-Fraktionierung. Diese Fraktionierung bildet sich nur dann aus, wenn viele Spins (d.h. fundamentale Quantenmagnete) in eine gemeinsame, kohärente Quantenüberlagerung gebrachte werden können. Die Forscher haben das in ihren präzise synthetisierten Molekülketten geschafft.
Auf diesen besonderen Spin-Effekten in den Graphen-Nanoribbons soll «CarboQuant» nun aufbauen. Gröning: «Wir sehen bislang Spin-Zustände an ganz bestimmten Stellen der Graphen-Nanoribbons, die wir gezielt aufbauen und nachweisen können. Als nächstes wird es darum gehen, diese Spin-Zustände gezielt zu steuern, z.B. den Spin an einem Ende des Nanoribbons umzudrehen und am anderen Ende eine entsprechende Reaktion zu erzeugen.» Damit hätten die Forscher etwas ganz Besonderes in der Hand: einen Quanteneffekt, der auch bei Raumtemperatur oder moderater Kühlung stabil ist und manipuliert werden kann. Das könnte ein Königsweg sein, um völlig neuartige Quantencomputer zu bauen.
Warum aber können Quantencomputer schneller rechnen als herkömmliche Computer? Klassische Rechenmaschinen rechnen in Bits. Jedes Bauteil kann einen von zwei möglichen Zuständen aufweisen: 0 oder 1. In der Quantenwelt dagegen können sich diese Zustände Überlagern: Möglich sind 0 oder 1 oder beide Zustände gleichzeitig. Darum können Schaltkreise eines Quantencomputers, sogenannte Qubits, nicht nur eine Rechenoperation nach der anderen durchführen, sondern mehrere gleichzeitig. Oliver Gröning freut sich schon auf das Experiment: «Wenn wir es schaffen, die Spin-Zustände in unseren Nanoribbons zu kontrollieren, können wir sie für quantenelektronische Bauteile nutzen.»
Während ein Teil des Teams weiter im Hochvakuum die Spin-Effekte untersucht, soll sich ein anderer Teil des Teams um die Alltagstauglichkeit der Graphen-Nanoribbons kümmern. «Wir müssen die Bauteile aus dem geschützten Brutkasten des Vakuums herausholen und sie so präparieren, dass sie auch in unserer Welt, also an Luft und Wärme, nicht zerfallen. Dann erst können wir die Nanoribbons mit Kontakten versehen - was die Voraussetzung für nutzbare Anwendungen ohne aufwändige Infrastruktur ist», so Gröning.
Der Aufbruch in die unbekannte, neue Welt wird auf jeden Fall anspruchsvoll. Schon für den ersten der kommenden Forschungsschritte, die Kontrolle und zeitaufgelöste Messung der Spinzustände, ist ein völlig neuer Gerätepark notwendig, den die Forscher entwickeln und aufbauen werden. «Wir müssen das Rastertunnelmikroskop (STM von engl. «Scanning Tunneling Mikroskope»), in dem wir die Nanoribbons herstellen und ihre Struktur betrachten, mit ultra-schnellen Messungen der elektronischen und magnetischen Eigenschaften erweitern», erläutert Gröning. Dies kann durch elektrische Hochfrequenzsignale bei hohen Magnetfeldern und durch Bestrahlung mit sehr kurzen, äusserst intensiven Laserpulsen geschehen.
Dazu werden an der Empa zwei neue Messsysteme aufgebaut, die auch in anderen Forschungsprojekten des Teams eine Schlüsselrolle spielen werden und welche durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und den Europäischen Forschungsrat (ERC) mitfinanziert werden. «Dies zeigt einerseits», so Gröning, «dass aus verschiedenen Projekten immer Synergien entstehen, und andererseits, dass hochgesteckte Ziele nur durch die Unterstützung verschiedener Akteure auf mehreren Ebenen erreicht werden können». Alleine für den Aufbau dieser neuen Analysegeräte und für die ersten Testläufe veranschlagen die Forschenden zwei bis drei Jahre.
«CarboQuant» sei durch diese langfristige und grosszügige Finanzierung ein ganz besonderes Projekt, sagt Oliver Gröning. Das Empa-Team verfügt nun über aussergewöhnlich grosse und langfristige Gestaltungsfreiheit auf dem Weg zu ihrem ambitionierten Forschungsziel: einem möglichen Baumaterial für Quantencomputer der nächsten Generation. «Wir sehen zwar die Insel noch nicht, die da draussen liegen könnte. Aber wir erahnen sie, und wenn dort etwas ist, sind wir zuversichtlich, dass wir es dank der Unterstützung durch die Werner Siemens-Stiftung und unsere nationalen und internationalen Forschungspartner auch finden werden», sagt Gröning.