Ein Team der EPFL hat einen Weg gefunden, Wasser in einem Bereich mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt zu untersuchen, in dem die Kristallisation sehr schnell verläuft. Die Unfähigkeit, in diesen Bereich vorzudringen, hat Wissenschaftler schon immer davon abgehalten, das Rätsel der abnormalen Natur des Wassers zu entschlüsseln, doch die entwickelte Methode könnte dies ändern.
Wasser ist eine der am weitesten verbreiteten absolut essentiellen Verbindungen auf der Erde. Es bedeckt über 70% der Erdoberfläche und bestimmt die Zusammensetzung, die Geologie und sogar das Wetter- und Klimaregime des Planeten.
Es ist auch ein seltsames Element, da es eine Reihe von "abnormalen" Eigenschaften aufweist - die wissenschaftliche Gemeinschaft hat bereits über 70 davon identifiziert! Es gibt verschiedene Theorien über diese Anomalien, aber sie sind schwer experimentell zu überprüfen, unter anderem, weil dies bedeuten würde, die Flüssigkeit bei 160 bis 232 K (-113 bis -41 °C) zu untersuchen, einem Temperaturbereich, der als "Niemandsland" gilt, in dem Wasser so schnell kristallisiert, dass es noch nie gelungen ist, seine Eigenschaften zu analysieren.
Der Grund dafür ist, dass Wasser bei einer Temperatur deutlich unterhalb seines Erstarrungspunktes unterkühlt und dann faszinierende außergewöhnliche Eigenschaften hat: Es kann z. B. (unter bestimmten Bedingungen) flüssig bleiben, aber sofort gefrieren, wenn es einer Störung ausgesetzt oder mit bestimmten Substanzen in Kontakt gebracht wird. Unterkühltes Wasser erhält man, indem man flüssiges Wasser unter seinen Erstarrungspunkt abkühlt und gleichzeitig durch Tricks die Kristallisation verhindert oder zumindest verlangsamt. Im "Niemandsland" sind diese Tricks jedoch unwirksam, da die Kristallisation weiterhin zu schnell erfolgt.
"Die Durchführung eines Experiments zur systematischen Untersuchung der Struktur von Wasser im sogenannten Niemandsland war jahrzehntelang unerreichbar", erklärt Professor Ulrich Lorenz von der Fakultät für Grundlagenwissenschaften der EPFL. Jetzt ist es möglich: Das von ihm geleitete Wissenschaftlerteam hat eine Methode entwickelt, mit der man Wasser mit erhöhter Unterkühlung bei einer genau definierten Temperatur schnell herstellen und durch Elektronenbeugung untersuchen kann, bevor es kristallisieren kann.
"Wir haben immer noch nicht ganz verstanden, warum Wasser eine abnormale Flüssigkeit ist, obwohl diese Frage seit über 40 Jahren heftig diskutiert wird", sagtProf. Lorenz. "Die Antwort scheint im "Niemandsland" zu liegen. Leider war wegen der schnellen Kristallisation eine Messung über den gesamten Temperaturbereich unmöglich; wir tun dies nun zum ersten Mal. Damit kommen wir der Lösung dieses seit langem bestehenden Rätsels einen Schritt näher".
Das Team führte die Experimente mit einem speziellen zeitaufgelösten Elektronenmikroskop durch, das es in seinem Labor maßgefertigt hatte. Es bereitete das unterkühlte Wasser bei einer genau definierten Temperatur vor und analysierte es kurz vor der Kristallisation. Dazu kühlten die Forscher eine Graphenschicht auf 101 K ab und brachten dann einen dünnen Film aus amorphem Eis auf. Anschließend schmolzen sie den Film lokal mit einem Mikrosekunden-Laserpuls, um Wasser im Niemandsland zu erhalten, und erfassten ein Beugungsmuster mithilfe einer intensiven Quelle gepulster Elektronen hoher Brillanz.
Es hat sich herausgestellt, dass sich die Struktur von Wasser allmählich verändert, wenn es von Raumtemperatur auf kryogene Temperaturen gebracht wird. Knapp unter 200 K (ca. -73 oC) beginnt es derjenigen von amorphem Eis zu ähneln - bei dem die Wassermoleküle ungeordnet angeordnet sind - und nicht der organisierten Struktur von kristallinem Eis, an die wir gewöhnt sind.
"Die schrittweise Entwicklung der Struktur ermöglicht es uns, das Spektrum der möglichen Erklärungen für die Entstehung des abnormalen Verhaltens von Wasser einzugrenzen", erklärtProf. Lorenz. "Unsere Entdeckungen und die von uns entwickelte Methode bringen uns bei der Aufklärung der Geheimnisse des Wassers einen Schritt näher ans Ziel. Es ist schwer, sich der Faszination dieser allgegenwärtigen, scheinbar einfachen Flüssigkeit zu entziehen, die ihre Geheimnisse noch immer preisgibt."
Referenzen
Constantin R. Kruger, Nathan J. Mowry, Gabriele Bongiovanni, Marcel Drabbels, and Ulrich J. Lorenz. Electron diffraction of water in no man’s land. Nature Communications 17 May 2023. DOI: 10.1038/s41467’023 -38520-7.
Untersuchung von Wasser bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt
Advert