Durch den Vergleich der Träume westlicher und nicht-westlicher Bevölkerungsgruppen zeigt eine Studie der Universität Genf und der Universität Toronto, dass Träume eine unterschiedliche emotionale Funktion haben können.
Warum träumen wir? Der Traum ist ein Produkt der Neurophysiologie unseres Gehirns. Er ist eine komplexe Erfahrung, die viele verschiedene emotionale Töne annehmen und die Realität in unterschiedlichem Maße simulieren kann. Daher gibt es auf diese Frage noch keine klare Antwort. Eine von den Universitäten Genf (UNIGE) und Toronto sowie dem Universitätsspital Genf (HUG) geleitete Studie verglich die Träume von zwei Gemeinschaften von Bauern und Sammlern in Tansania und der Demokratischen Republik Kongo mit denen von Menschen in Europa und Nordamerika. Sie zeigt, dass die beiden erstgenannten Gruppen mehr bedrohlichere, aber auch kathartische und sozial orientierte Träume produzierten als die westlichen Gruppen. Diese Ergebnisse, die in Scientific Reports zu lesen sind, belegen eine starke Verbindung zwischen dem soziokulturellen Umfeld und der Funktion von Träumen.Der Traum ist eine halluzinatorische Erfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist. Am häufigsten tritt er in der REM-Phase des Schlafs auf, die auch als " Rapid Eye Movement "-Phase (REM) bezeichnet wird. Er kann jedoch in allen Schlafphasen auftreten. Welche physiologischen, emotionalen oder kulturellen Funktionen hat der Traum? Reguliert er unsere Gefühle? Bereitet er uns auf eine bestimmte Situation vor? Neuere Theorien legen nahe, dass der Mensch während eines "funktionalen" Traums mehr bedrohliche und/oder soziale Situationen simuliert.
Der Ausgang des Traums unterscheidet sich je nach untersuchter Umgebung und Bevölkerung
Um diese Hypothesen zu testen, verglichen Forscher/innen der Universität Genf und der Universität Toronto den Inhalt der Träume der BaYaka in der Demokratischen Republik Kongo und der Hadza in Tansania - zwei Völker, deren Lebensweise der unserer Vorfahren, der Jäger und Sammler, ähnelt - mit dem Inhalt der Träume verschiedener Gruppen von Menschen, die in Europa und Nordamerika (Schweiz, Belgien, Kanada) leben, einschließlich gesunder Probanden und Menschen mit psychischen Störungen. Für die BaYaka und die Hadza wurden die Traumgeschichten zwei Monate lang von Anthropologen der Universität Toronto vor Ort gesammelt. Die Traumdaten der westlichen Gruppen stammten aus vergangenen Studien, die zwischen 2014 und 2022 veröffentlicht wurden.
’Wir haben herausgefunden, dass die Szenarien in den Träumen der BaYaka und Hadza sehr dynamisch sind. Sie beginnen oft mit einer gefährlichen Situation, in der ihr Leben bedroht ist, inszenieren aber schließlich einen Weg, diese Bedrohung zu bewältigen oder zu lösen, im Gegensatz zu den Szenarien der beobachteten westlichen Gruppen. Auf der anderen Seite sind bei klinischen Populationen wie Patienten, die unter Albträumen oder sozialen Ängsten leiden, die Träume zwar intensiv, enthalten aber keine kathartische emotionale Auflösung. In den letztgenannten Gruppen scheint die adaptive Funktion des Traums defizitär zu sein", erklärt Lampros Perogamvros, Privatdozent und Forschungsgruppenleiter an den Abteilungen für Psychiatrie und Grundlagenneurowissenschaften der Medizinischen Fakultät der Universität Genf sowie stellvertretender Chefarzt am Zentrum für Schlafmedizin des Universitätsspitals Genf, der die Studie leitete.
Ein Spiegelbild des sozialen Gefüges
Unter den Ressourcen, die indigenen Menschen angesichts einer Bedrohung in ihren Träumen zur Verfügung stehen, stellten die Forscher/innen fest, dass solche, die mit sozialer Unterstützung zu tun haben, sehr häufig vorkommen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Indigener von einem Traum berichtet, in dem er mitten im Busch von einem Büffel gerammt wird, bevor er von einem Mitglied seiner Gemeinschaft gerettet wird. Oder wenn ein anderer träumt, dass er in einen Brunnen fällt und einer seiner Freunde ihm hilft, wieder herauszukommen. Diese Träume enthalten in sich selbst ihre emotionale Auflösung.
’Bei den BaYaka und Hadza sind die sozialen Bindungen notgedrungen sehr stark. Im Vergleich zu den eher individualistischen Gesellschaften in Europa und Nordamerika sind das Alltagsleben und die Arbeitsteilung im Allgemeinen egalitärer. Auf der Grundlage dieser Art von Beziehungen verarbeiten diese Gemeinschaften den emotionalen Inhalt, der mit der Bedrohung in ihren Träumen verbunden ist. Tatsächlich sind diese Beziehungen emotionale Werkzeuge, die zur Verarbeitung der Herausforderungen des Lebens eingesetzt werden’, erklärt David Samson, außerordentlicher Professor für evolutionäre Anthropologie an der Universität von Toronto, Mississauga, und Erstautor der Studie. Das Forschungsteam legt somit nahe, dass es eine enge Beziehung zwischen der Funktion von Träumen und den Normen und Werten der jeweils untersuchten spezifischen Gesellschaft gibt.
oeEs ist jedoch schwierig, in dieser Studie kausale Zusammenhänge zwischen Träumen und der Tagesfunktion abzuleiten. Ebenso wenig kann man daraus schließen, dass Träume in westlichen Personengruppen keine emotionale Funktion haben’, schränkt Lampros Perogamvros ein. Tatsächlich hatte das gleiche Forschungsteam 2019 eine Studie veröffentlicht, die zeigte, dass "schlechte Träume" bei westlichen Menschen - also Träume mit negativem Inhalt, die keine Albträume sind - oftmals Simulationen unserer Ängste sind, die uns darauf vorbereiten, im Wachzustand mit ihnen umzugehen. Es scheint, dass es mehr als nur eine Art von "funktionellen" Träumen gibt. Die vorliegende Studie zeigt, dass es eine starke Verbindung zwischen unserem soziokulturellen Leben und der Funktion des Traums gibt’’, schloss der Forscher.
16. Okt. 2023