Eine gemeinsame Studie mit der EPFL baut eine neue Theorie auf, um das kollektive Verhalten von glasartigen Flüssigkeiten bei niedrigen Temperaturen zu erklären. Dieses Phänomen hat Auswirkungen auf Bereiche wie die Materialwissenschaft und die Biologie.
Glas ist trotz seiner scheinbaren Transparenz und Steifheit ein komplexes und faszinierendes Material. Wenn eine Flüssigkeit abgekühlt wird, um Glas zu bilden, verlangsamt sich ihre Dynamik erheblich, was dem Material einzigartige Eigenschaften verleiht.
Dieser Prozess, der als "Glasübergang" bezeichnet wird, verwirrt die Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Einer seiner faszinierenden Aspekte ist jedoch die Entstehung von "dynamischen Heterogenitäten", bei denen die Dynamik zunehmend korreliert und intermittierend wird, je mehr die Flüssigkeit abkühlt und sich der Glasübergangstemperatur nähert.
In einer aktuellen Studie schlagen Forscherinnen und Forscher einen neuen theoretischen Rahmen vor, um diese dynamischen Heterogenitäten in glasartigen Flüssigkeiten zu erklären. Die Idee ist, dass die Relaxation in diesen Flüssigkeiten durch lokale Umlagerungen erfolgt, die sich über elastische Wechselwirkungen gegenseitig beeinflussen. Durch die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen lokalen Umlagerungen, elastischen Wechselwirkungen und thermischen Fluktuationen haben die Forscherinnen und Forscher eine umfassende Theorie der kollektiven Dynamik dieser komplexen Systeme formuliert.
Die gemeinsame Studie wurde von Professor Matthieu Wyart von der EPFL und seinen Kollegen vom Max-Planck-Institut in Dresden, der ENS, der Université Grenoble Alpes und dem Zentrum für Systembiologie in Dresden durchgeführt. Sie wurde heute in der Fachzeitschrift Physical Review X veröffentlicht.
Das Team hat eine "Skalentheorie" entwickelt, die erfolgreich das Wachstum der dynamischen Korrelationslänge erklärt, die in glasigen Flüssigkeiten beobachtet wird. Diese Korrelationslänge steht im Zusammenhang mit "thermischen Lawinen". Dabei handelt es sich um seltene Ereignisse, die durch thermische Fluktuationen induziert werden und anschließend eine neue, schnellere Dynamik auslösen.
Der theoretische Rahmen der Studie ermöglicht auch ein besseres Verständnis des Bruchs der Stokes-Einstein-Beziehung, eines Phänomens, bei dem die Viskosität der Flüssigkeit von der Diffusion ihrer Partikel abgekoppelt ist.
Um ihre theoretischen Vorhersagen zu bestätigen, führten die Forscherinnen und Forscher umfangreiche numerische Simulationen unter verschiedenen Bedingungen durch. Diese Simulationen bestätigten die Genauigkeit ihrer Skalentheorie und ihre Fähigkeit, die beobachtete Dynamik in glasigen Flüssigkeiten zu beschreiben.
Diese Studie ermöglicht nicht nur ein besseres Verständnis der Glasdynamik, sondern bietet auch einen neuen Ansatz für die intermittierende Dynamik komplexer Systeme. Eine solche intermittierende Dynamik tritt bei vielen Phänomenen auf, von der Gehirnaktivität bis hin zur Reibung zwischen festen Objekten.
"Unsere Arbeit besteht darin, das Wachstum der dynamischen Korrelationslänge in Flüssigkeiten mit lawinenartigen Relaxationen in Verbindung zu bringen, die vor allem im Zusammenhang mit ungeordneten Magneten, körnigen Materialien und Erdbeben gut untersucht sind", sagt Matthieu Wyart. "Dieser Ansatz ermöglicht es, unerwartete Verbindungen zwischen anderen Bereichen herzustellen. Unsere Beschreibung, wie Lawinen durch exogene Fluktuationen, einschließlich thermischer Fluktuationen, beeinflusst werden, kann daher von allgemeinerem Interesse sein. "
Referenzen
Ali Tahaei, Giulio Biroli, Misaki Ozawa, Marko Popovic, Matthieu Wyart. Scaling description of dynamical heterogeneity and avalanches of relaxation in glass-forming liquids. Physical Review X, 21 September 2023. DOI: 10.1103/PhysRevX.13.031034