
Ein Team der Universität Genf arbeitete an einem innovativen Buchprojekt für Kinder mit einer Sehbehinderung.
Kinder mit einer Sehbehinderung nehmen die Welt anders wahr als Sehende. Daher benötigen sie spezielle Bildungsmaterialien, darunter auch Kinderbücher, die ihre Fähigkeiten und verfügbaren Sinne fördern. Ein Team der Universität Genf hat in Zusammenarbeit mit der Universität Lumière Lyon 2, der Universität Paris 8 und dem Verlag "Les Doigts Qui Rêvent" ein Buch mit taktilen Illustrationen entwickelt, denen Töne zugeordnet wurden. Dieses vielversprechende Werkzeug erleichtert Kindern mit und ohne Sehbehinderung die Identifizierung von Objekten. Die Ergebnisse sind im British Journal of Visual Impairment zu finden .
Kinderbücher spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Kindes. Sie ermöglichen es dem Kind, die Schrift- und Lautsprache sowie die Welt um sich herum durch Bilder zu entdecken. Bücher mit taktilen Illustrationen sind dabei besonders hilfreich, vorausgesetzt, die Bilder werden von den jungen Lesern und Leserinnen richtig verstanden. Was ist mit sehbehinderten oder blinden Kindern, die die Welt anders wahrnehmen als Sehende?
Diese Gruppe von Kindern hat in der Regel Schwierigkeiten, die Objekte zu identifizieren, die in herkömmlichen taktilen Büchern dargestellt werden, meist in Form von einfachen, erhabenen Zeichnungen. Ein Haus zum Beispiel wird schematisch durch ein Dreieck (das Dach) und ein Quadrat (die Wände) in einer geprägten Textur dargestellt. Da sich diese beiden Formen auf sichtbare Merkmale beziehen, werden sie für Kinder, die noch nie ein Haus gesehen haben, schwer zu interpretieren sein.
Besser geeignet für sensorisches Erleben
Auf dem Markt sind spezielle taktile Bücher erhältlich. Das richtige Verständnis ihrer Illustrationen hängt jedoch auch hier oft von vorherigen visuellen Erfahrungen ab. Um dieses Problem zu lösen, hat ein Team der Universität Genf an der Entwicklung und Erprobung eines Buches mit taktilen Illustrationen mitgewirkt, dessen Interpretation sich nicht auf das Sehen, sondern auf den Tastsinn und das Gehör stützt. Dieses Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Anna Rita Galiano, Dozentin an der Université Lumière Lyon 2, und Dominique Archambault, Universitätsprofessor am CHArt-Labor (Cognition Humaine et Artificielle) der Université Paris 8, durchgeführt. Letzteres hat die Technologien entwickelt, die es ermöglichen, die Interaktionen der Leser/innen mit dem Buch zu erfassen. Diese Studie ist Teil des Projekts Tibontab(Tactile Illustrated Books on Tablet), das von dem Partnerverlag ’Les Doigts Qui Rêvent’ getragen wird.
Ziel war es, ein Experiment anzubieten, das der sensorischen Erfahrung von sehbehinderten und blinden Kindern besser entspricht, damit sie Objekte identifizieren können, die sie vielleicht noch nie gesehen haben’.Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Laboratoire du développement sensori-moteur affectif et social (SMAS) der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Genf, Dozentin an der Forschungseinheit Développement, Individuum, Processus, Handicap, éducation (DIPHE) der Universität Lumière Lyon 2 und Erstautorin der Studie.
Gesten, Formen und Klänge zuordnen
In einer früheren Studie hatten die Forscher/innen taktile Illustrationen in Form von kleinen 3D-Modulen (eine Miniaturrutsche oder -schaukel) entworfen und getestet. Kinder mit Sehbehinderung sollten diese Module durch Berührung erkunden, indem sie zwei Finger - Zeige- und Mittelfinger - benutzten, als wären es ihre Beine. Die Forscher stellten fest, dass sie sich die Objekte auf diese Weise besser vorstellen konnten als durch die Berührung einfacher Reliefzeichnungen, die sich eher auf das Aussehen der Objekte stützten. In der vorliegenden Studie wurden diese Module um zugehörige Manipulationen und Klänge ergänzt. Das Ganze wurde in einem Buch zusammengefasst.
Das Buch mit dem Titel "Kleine Hand geht spazieren" befindet sich noch im Prototypenstadium und besteht aus vier Seiten. Jede enthält eine Aktion, die das Kind mit seinen Händen ausführen muss und die an die realen Interaktionen des Kindes mit bestimmten Objekten erinnert. Auf jeder Seite hört das Kind Geräusche, die es zur Manipulation auffordern. Wenn es zum Beispiel die Audio-Anweisung "Geh auch du mit deinen Fingern die Treppe hoch" hört, steigt es eine kleine Treppe hinauf, die bei Berührung mit seinen Fingern ein Schrittgeräusch erzeugt. Das Buch wurde unter aktiver Beteiligung von elf Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren mit unterschiedlichen Graden der Sehbehinderung gestaltet.
Inklusiver
Bei den Lesetests des Buches beobachteten wir die Übereinstimmung zwischen dem Text und der Erkundung der Illustrationen sowie die von den Kindern auf jeder Seite erwarteten Leistungen. Wir haben das Leseverhalten einer Gruppe vollständig blinder Kinder mit dem einer Gruppe von Kindern verglichen, die noch über visuelle Fähigkeiten verfügen. Diese Tests haben ergeben, dass die Kombination von Gesten und Lauten es diesen Kindern unabhängig von ihren visuellen Fähigkeiten ermöglicht, die dargestellten Objekte leichter und schneller zu erkennen’, erklärt Edouard Gentaz, ordentlicher Professor und Leiter des Labors für affektive und soziale sensomotorische Entwicklung (SMAS) an der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Genf.
Diese Erkenntnisse ebnen den Weg für die Herstellung von noch integrativeren taktilen Büchern, unabhängig von der visuellen Erfahrung der Kinder. Das Forschungsteam und ’Les Doigts Qui Rêvent’ arbeiten gemeinsam an einem neuen Prototypen. In diesem Buch werden leitfähige Stoffe und Schaumstoffe in Verbindung mit elektronischen Schaltkreisen verwendet, um als Reaktion auf die Gesten der Leserinnen und Leser akustische Atmosphären auszulösen. Dieses noch immersivere Buch wird in Kürze auf den Markt kommen.
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