Mit einer neuen Technik zur Beobachtung chemischer Reaktionen in Flüssigkeiten beleuchten die Universität Genf und die ETH eine der Hypothesen über die chemischen Ursprünge des Lebens.
Welche Prozesse haben zur Entstehung von Leben auf unserem Planeten geführt? Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass Harnstoff eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dieses kleine Molekül soll sich in heißen Wasserpfützen angereichert haben und unter dem Einfluss kosmischer Strahlung Malonsäure produziert haben, aus der RNA und DNA entstanden sind. Um zu beobachten, wie sich eine Harnstofflösung verhält, wenn sie solchen Strahlen ausgesetzt wird, entwickelte ein Team der Universität Genf und der ETH Zürich (ETH) eine spektroskopische Methode, mit der chemische Reaktionen in Flüssigkeiten mit einer extrem hohen zeitlichen Auflösung beobachtet werden können. Die Ergebnisse, die in der Zeitschrift Nature zu lesen sind, werfen ein neues Licht auf die Entstehung des Lebens auf der Erde.Die ersten Spuren von Leben auf der Erde sollen 3,8 Milliarden Jahre alt sein. Über seine Entstehung gibt es jedoch viele Hypothesen. Eine dieser Hypothesen besagt, dass Harnstoff der Ursprung des Lebens war. Dieses kleine Molekül, das Kohlenstoff und Stickstoff enthält, soll sich in heißen Wasserpfützen angereichert haben. Da das Wasser nach und nach verdunstete, hätte sich die Harnstoffkonzentration in dieser Ursuppe erhöht. Unter der ionisierenden Wirkung kosmischer Strahlen hätte diese Substanz dann Malonsäure produziert, die möglicherweise die Bausteine für RNA und DNA geschaffen hat.
Ein Team der Universität Genf und der ETH hat eine Methode der Infrarotspektroskopie entwickelt, mit der sich diese Art von chemischen Reaktionen in Flüssigkeiten genau beobachten lässt, und zwar mit einer extrem hohen zeitlichen Auflösung. Mit ihrer Hilfe können Wissenschaftler untersuchen, wie sich Moleküle innerhalb von Femtosekunden, d. h. in einigen Millionsteln einer Milliardstelsekunde, verändern. Diese Technik baut auf früheren Arbeiten derselben Teams auf.
Ein Zoom auf die ursprünglichen Moleküle
Um ihre spektroskopischen Beobachtungen auf Flüssigkeiten - die natürliche Umgebung biochemischer Prozesse - auszudehnen, mussten die Forscher/innen ein Gerät entwickeln, das einen Flüssigkeitsstrahl mit einem Durchmesser von weniger als einem Millionstel Meter im Vakuum erzeugen konnte. Dies war entscheidend, denn wenn der Strahl dicker wäre, würde er einen Teil der Röntgenstrahlen absorbieren, die zu seiner Messung verwendet werden. Dieser sehr dünne Flüssigkeitsfilm entsteht durch die Kollision zweier Flüssigkeitsstrahlen in einem ganz bestimmten Winkel’, erklärt Jean-Pierre Wolf, ordentlicher Professor an der Abteilung für angewandte Physik der Physikabteilung der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf, in deren Laboren diese Arbeit durchgeführt wurde.
Dank der außerordentlichen Fortschritte bei den Laborquellen, die außergewöhnlich kurze Röntgenpulse liefern, konnten wir die ultraschnelle Dynamik von solvatisiertem Harnstoff beobachten’, erklärt Zhong Yin, ein ehemaliger ETH-Forscher und einer der Hauptexperimentatoren.
Mit dieser neuen Technik konnten Forscher/innen der Universität Genf und der ETH Genf den ersten Schritt in der langen Reihe von chemischen Reaktionen untersuchen, die zur Entstehung des Lebens geführt haben sollen. Es wurde untersucht, wie sich eine konzentrierte Harnstofflösung verhält, wenn sie ionisierender Strahlung ausgesetzt wird. oeDie Moleküle in einer konzentrierten Harnstofflösung bilden Paare, die als Dimere bezeichnet werden. Wir haben herausgefunden, dass ionisierende Strahlung die Verschiebung eines Wasserstoffatoms von einem Harnstoffmolekül zum anderen innerhalb jedes dieser Dimere bewirkt’, erklärt Hans Jakob Wörner, ordentlicher Professor am Departement für Chemie und angewandte Biowissenschaften der ETH, der die Studie mit leitete.
Reaktionen bei 150 Billiardstelsekunden
In diesem Schritt wird eines der beiden Moleküle des Dimers in ein protoniertes Harnstoffmolekül umgewandelt, das andere in ein Harnstoffradikal. Letzteres ist chemisch so reaktiv, dass es sehr wahrscheinlich mit anderen Molekülen reagiert und Malonsäure bildet. Die Wissenschaftler konnten auch zeigen, dass die Übertragung des Wasserstoffatoms extrem schnell erfolgt, nämlich innerhalb von 150 Femtosekunden (150 Billiardstelsekunden).
’Das ist so schnell, dass diese Reaktion allen anderen Reaktionen, die theoretisch stattfinden könnten, zuvorkommt. Das erklärt, warum konzentrierte Harnstofflösungen Harnstoffradikale produzieren, anstatt andere Reaktionen zu beherbergen, die andere Moleküle produzieren würden’, sagt der ETH-Forscher. In Zukunft möchte das Forschungsteam die weiteren Schritte untersuchen, die zur Bildung von Malonsäure führen.
Die erhaltenen experimentellen Ergebnisse wurden in Zusammenarbeit mit Forscher/innen der Universität Hamburg und des CFEL analysiert, die die zur Interpretation der Daten notwendigen Berechnungen durchführten. Diese neue Methode eröffnet neue Perspektiven für die Erforschung der Ursprünge des Lebens und im weiteren Sinne jeder chemischen Reaktion, die in Flüssigkeiten stattfindet. Die vielversprechendsten Anwendungen werden in der Entwicklung neuer Medikamente oder neuer Materialien liegen, um die Sonnenenergie auf effizientere Weise einzufangen.