Das Doppelgesicht von Fentanyl: Die neuronalen Grundlagen der Opioidabhängigkeit

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Das Doppelgesicht von Fentanyl: Die neuronalen Grundlagen der Opioidabhängigkeit

Wissenschaftler der Universität Genf haben herausgefunden, dass Fentanyl zwei verschiedene Zellpopulationen im Gehirn aktiviert, und zwar sowohl bei der Einnahme als auch beim Entzug, und schlagen ein neues Modell der Opioidabhängigkeit vor.

Fentanyl ist ein besonders starkes synthetisches Opioid. Es wurde von seiner ursprünglichen medizinischen Verwendung abgezweigt und ist zu einer tödlichen Droge geworden, die für drei Viertel aller Todesfälle durch Überdosierung in den USA verantwortlich ist. Die Auswirkungen von Opiaten auf das Gehirn sind jedoch nach wie vor nur unzureichend verstanden. Ein Team der Universität Genf entschlüsselte die neuronalen Mechanismen und fand heraus, dass Opiate über denselben Zellrezeptor in zwei verschiedenen Regionen des Gehirns zwei unterschiedliche Wirkungen ausüben. Der eine führt zu einer euphorisierenden Wirkung, der zweite zu einem starken Unwohlsein beim Entzug. Dies würde erklären, warum Menschen die Droge nicht nur wegen der euphorisierenden Wirkung nehmen, sondern auch, um Entzugserscheinungen zu vermeiden, und warum Opioide stärker süchtig machen als andere Drogen. Diese Ergebnisse, die in der Zeitschrift Nature zu lesen sind, stellen die derzeitigen Modelle der Sucht in Frage und eröffnen einen neuartigen Weg zur Verbesserung der Substitutionsbehandlung und zur Entwicklung von Schmerzmitteln mit weniger Nebenwirkungen.

Intravenös injiziert wirkt Fentanyl, das 20- bis 40-mal stärker als Heroin und 100-mal stärker als Morphin ist, in weniger als zehn Sekunden. Wie andere Opiate induziert es ein massives Wohlbefinden. Nach wiederholtem Konsum äußert sich die Abwesenheit der Droge jedoch in äußerst schmerzhaften Entzugserscheinungen. ’Wir sprechen von positiver Verstärkung, wenn das angenehme Gefühl zur wiederholten Einnahme des Produkts führt, und von negativer Verstärkung, wenn die Droge konsumiert wird, um das Entzugssyndrom zu vermeiden’, erklärt Christian Lüscher, ordentlicher Professor an der Abteilung für grundlegende Neurowissenschaften der medizinischen Fakultät der Universität Genf und am Synapsy-Zentrum für neurowissenschaftliche Forschung im Bereich der psychischen Gesundheit, der die Arbeit geleitet hat. ’Der Entzug, der einige Stunden nach der letzten Einnahme einsetzt, ist sowohl körperlich - mit Zittern, übermäßigem Schwitzen und Schmerzen - als auch psychisch - mit einem intensiven Unwohlsein, das bei anderen Drogen nicht auftritt.’

Nicht eine, sondern zwei Gehirnregionen sind beteiligt.
Der Wirkstoff löst eine Aktivierung der dopaminergen Neuronen im mesolimbischen System (oder Belohnungssystem) aus, das die Area tegmentalis ventralis und den Nucleus accubens umfasst. Die Neuronen setzen dann eine große Menge an Dopamin frei. Normalerweise stehen diese Zellen unter der Kontrolle von hemmenden GABA-Neuronen. Opiate blockieren diese jedoch und steigern die Aktivität der dopaminergen Neuronen, wodurch die euphorische Phase ausgelöst wird. Der Schlüssel zum Verständnis ist der Opiatrezeptor ’mu’.

Bisher ging man davon aus, dass die Mechanismen der positiven und der negativen Verstärkung im selben Gehirnbereich, dem mesolimbischen System, stattfinden. Unsere Hypothese legt jedoch nahe, dass der Ursprung der negativen Verstärkung in Zellen zu suchen ist, die den mu-Rezeptor anderswo im Gehirn exprimieren’, erläutert Fabrice Chaudun, Oberassistent im Labor von Christian Lüscher und Erstautor der Arbeit.

Um ihre Hypothese zu testen, verwendeten die Wissenschaftler eine Reihe von Verhaltensexperimenten und die Beobachtung von Neuronen. Zunächst wurde bei Mäusen, die nach Fentanyl süchtig waren, der mu-Rezeptor in der ventralen tegmentalen Area unterdrückt. Wenn die positive Verstärkung wegfällt, bleibt der Entzug unverändert. ’Als wir das Experiment in verschiedenen neuronalen Netzwerken wiederholten, identifizierten wir eine bisher unbekannte Zellpopulation, die den mu-Rezeptor in einer anderen Gehirnregion, der zentralen Amygdala, exprimiert, die mit Angst und Furcht in Verbindung steht’, sagt Fabrice Chaudun. ’Wenn man den mu-Rezeptor in den dort befindlichen Zellen unterdrückt, verschwinden die Entzugserscheinungen, nicht aber die positive Verstärkung.’

Neuronen selektiv aktivieren und deaktivieren.
Dank der Zusammenarbeit mit den Teams von Brigitte Kiefer und Emanuel Valjent (Universitäten Straßburg und Montpelier) und zwei Mauslinien, mit denen der mu-Rezeptor selektiv im Gehirn aktiviert und deaktiviert werden kann, konnten die Wissenschaftler die neuronalen Mechanismen von Opiaten mit bisher unerreichter Genauigkeit nachbilden. ’Das ist die ganze Komplexität der Hirnforschung’, fasst Christian Lüscher zusammen. ’Pharmakologische Substanzen aktivieren unterschiedslos viele Netzwerke. Um die Zusammenhänge zwischen einer Substanz, der Aktivierung eines neuronalen Schaltkreises und dem Verhalten zu verstehen, mussten wir verschiedene Techniken zur Manipulation von Neuronen und Netzwerken kombinieren.

Um ihre Ergebnisse zu bestätigen, setzten die Wissenschaftler die Optogenetik ein, mit der man auf einzelne Zellen einwirken kann. Die Stimulation von Zellen in der zentralen Amygdala, die einen Entzug nachahmte, löste bei den Mäusen dieselben Symptome und Verhaltensweisen aus wie ein Entzugszustand. Die Mäuse, die kein Fentanyl konsumiert hatten, machten davon Gebrauch, während die Mäuse auf Drogen dies nicht taten, was bestätigt, dass der Stoff auf die gleichen Netzwerke wirkt.

Ein Schmerzmittel ohne schädliche Folgen?
Diese Ergebnisse verändern das Modell zum Verständnis der Opioidabhängigkeit radikal. Da die positive und negative Verstärkung über zwei verschiedene Netzwerke erfolgt, könnte dies das besonders hohe Suchtpotenzial dieser Substanzen erklären: Die beiden Mechanismen würden sich addieren und noch mehr zu einem unvernünftigen Konsum verleiten. Diese Entdeckungen werden es ermöglichen, die Substitutionsbehandlungen zu verfeinern und die Forschung auf dem Gebiet der Schmerzmittel ohne Suchtgefahr voranzutreiben.