Wenn man die Anzahl der in einem Raum anwesenden Personen schätzt - ohne sie einzeln zu zählen -, zählt man natürlich zu viele. Eine einfache darwinistische Perspektive auf die Evolution liefert die Erklärung für dieses Phänomen: Es ist vorteilhafter, zu viele potenziell gefährliche Agenten und Räuber zu zählen, als zu wenige zu zählen. Die Existenz eines sozialen Verhaltens des Überzählens ist sowohl bei Menschen als auch bei Tieren nachgewiesen. Im Dschungel ist es sicherlich besser, zu viele Tiger zu sehen, als ein hungriges Exemplar zu übersehen.
Wissenschaftler der EPFL zeigen, dass man die Anzahl der Personen in einem Raum eher überschätzt, wenn man an Halluzinationen leidet - vor allem, wenn diese mit einer Krankheit wie Parkinson zusammenhängen. Sie zeigen auch, dass Halluzinierende die Anzahl der Kisten in einem Raum - also leblose Kontrollobjekte - nicht stärker überschätzen. Eine Entdeckung, die die soziale Natur des Überzählens beleuchtet. Die Ergebnisse wurden in Nature Communications veröffentlicht.
"Es ist faszinierend, dass Parkinson-Patienten die Anzahl der anwesenden Personen viel stärker überschätzen, weil die Krankheit klassischerweise als motorische Störung angesehen wird", erklärt Olaf Blanke, Leiter des Labors für kognitive Neurowissenschaft an der EPFL und Teil von Neuro-X. Wir zeigen, dass Parkinson auch unter die Wahrnehmungsstörung fallen könnte, insbesondere in Bezug auf soziale Reize, und dass unsichtbare Anwesenheiten bei der Krankheit das soziale Gehirn in seiner Zählaktivität noch mehr beeinträchtigen könnten."
Neurowissenschaftler haben eine Kategorie von Halluzinationen untersucht, die als "Präsenzhalluzinationen" bezeichnet werden: Menschen berichten von einer unsichtbaren Präsenz an ihrer Seite, obwohl niemand anwesend ist. Diese Halluzinationen werden im Vergleich zu den visuellen Halluzinationen als geringfügig angesehen. Bei Parkinson-Patienten können sie sehr früh im Verlauf der Krankheit auftreten, manchmal sogar schon vor der Diagnose. Präsenzhalluzinationen sind auch als früher Marker für den kognitiven Verfall bekannt.
Die Ergebnisse des EPFL-Teams stützen die Idee, dass eine unsichtbare Präsenz (und die zugrunde liegenden Gehirnmechanismen ) für das Überzählen verantwortlich sind. Wenn wir Präsenzhalluzinationen erleben - sei es aufgrund einer Krankheit oder künstlich herbeigeführt - fügen wir unterbewusst diese zusätzlichen Präsenzen zu der bereits überhöhten Anzahl von Personen hinzu, die wir glauben, gesehen zu haben. Kurz gesagt: Man fügt unsichtbare Präsenzen in den Zählprozess ein, aber nur, wenn man Personen zählt.
Numerositäts- und Technodeliktische Erfahrungen
Die Wissenschaftler testeten die Hypothese, dass Präsenzhalluzinationen zu einer Überzählung von Personen führen. Zu diesem Zweck kombinierten sie Technologien aus der virtuellen Realität und der Robotik. Eine einzigartige Kombination, die sie "Technodelic" nennen. Dabei geht es darum, mit technologischen Mitteln veränderte Bewusstseinszustände hervorzurufen und diese als solche in einer Studie über technologisch induzierte Halluzinationen zu verwenden. Virtuelle Realität dient dem Experiment, Menschen zu zählen: Den Versuchspersonen werden virtuelle 3D-Szenen mit fünf, sechs, sieben oder acht Personen in einem leeren Raum für den Bruchteil einer Sekunde gezeigt (genauer gesagt 200 Millisekunden, d. h. zu viele Personen und zu wenig Zeit, um sie einzeln zählen zu können). Die Aufgabe der Robotik ist es, Präsenzhalluzinationen zu induzieren. Diese werden durch einen Roboterfinger hervorgerufen, der auf den Rücken der Versuchsperson tippt. Das Robotergerät folgt - desynchronisiert - der Fingerbewegung der Versuchsperson, die so tut, als würde sie mit ihrem Finger vor sich hin klopfen. Bei der Beurteilung der Anfälligkeit für Halluzinationen beobachteten die Wissenschaftler, dass gesunde Probanden, wenn sie Technodelikten ausgesetzt werden, Überzählungen durchführen.
"Unsere technodelische Umgebung hat den Vorteil, dass sie eine objektive Messung von Halluzinationen ermöglicht, die typischerweise subjektive Zustände sind", erklärt Louis Albert, Erstautor der Studie. Im Großen und Ganzen erhalten wir ein klares und implizites Maß für die Anfälligkeit für Halluzinationen, indem wir Halluzinationen konzipieren und induzieren."
Die Plattform ermöglicht es, die Anfälligkeit für Halluzinationen fast automatisch zu bestimmen, im Gegensatz zu den derzeitigen Methoden, die entweder auf einfachen Fragen (die Person wird gefragt, ob sie eine Halluzination erlebt oder nicht), Fragebögen oder anderen Ansätzen basieren, die die subjektive Analyse eines medizinischen Experten beinhalten.
Zu Hause auf Halluzinationen achten
Für ihre Studie haben die Wissenschaftler eine vereinfachte Version ihres Zählexperiments entwickelt. Das Experiment kann im Labor, aber auch online und diskret von zu Hause aus durchgeführt werden, ohne dass das medizinische Personal eine zusätzliche Ausbildung benötigt.
"Wir haben jetzt einen Online-Test, der feststellen kann, ob jemand anfällig für Halluzinationen ist", fährt Louis Albert fort. Es ist ein objektives und unverzichtbares Instrument, um diese Anfälligkeit bei Patienten zu messen. Sie können den Test selbstständig zu Hause von ihrem Computer oder Tablet-PC aus durchführen. So haben wir die Möglichkeit, eine große Bevölkerungsgruppe zu minimalen Kosten zu erreichen. Für die Beurteilung von Halluzinationen ist keine besondere Ausrüstung oder Fachpersonal erforderlich, und die Patienten müssen nicht in eine Klinik reisen. Der Test ist zugänglich und kann auch Menschen zugute kommen, die weit entfernt von medizinischen Zentren oder in Ländern mit niedrigem Einkommen leben".
An der Online-Studie nahmen etwa 170 Parkinson-Patienten teil, von denen 69 von Präsenz-Halluzinationen betroffen waren. Bei der Online-Version der Studie stellten die Wissenschaftler fest, dass Patienten mit Präsenzhalluzinationen die Anzahl der Personen stärker überschätzten als andere. Einige Probanden gaben an, elf oder mehr Personen gesehen zu haben, obwohl ihnen nur acht Personen vorgestellt worden waren.
"Wir haben Strategien, um festzustellen, ob ein Patient mit Parkinson-Krankheit zu Präsenz-Halluzinationen neigt. Das bedeutet, dass wir in Zukunft in der Lage sein sollten, diejenigen zu identifizieren und zu überwachen, die am anfälligsten für einen kognitiven Verfall sind, um ihnen frühzeitig eine Behandlung zukommen zu lassen", sagt Koautor Fosco Bernasconi.
Das 2022 gegründete Institut Neuro X der EPFL ist auf translationale Forschung in den Neurowissenschaften, Brain Engineering und Neuroinformatik spezialisiert. Mit 14 Laboren, in denen ein Team von 250 Experten tätig ist, will das Institut die Entwicklung neuer Therapien beschleunigen, indem es die Erforschung von Gehirnfunktionen, innovativen neuronalen Schnittstellen und KI-gesteuerten Neuroinformatikmodellen integriert.
Von der Körperaneignung zu Technodelikten Vor fast zehn Jahren starteten Wissenschaftler der EPFL eine Roboteraufgabe, deren Ziele nichts mit der Anfälligkeit für Halluzinationen zu tun hatten - eine Erinnerung an die Serendipität, die in den Wissenschaften am Werk ist. Die Aufgabe sollte die körperliche Selbstdarstellung erforschen und die Art und Weise, wie der Geist sensorische Informationen nutzt, um den Eindruck zu erzeugen, dass unser Körper uns gehört. Während des Experiments berichteten die Teilnehmer wiederholt von dem beunruhigenden Gefühl einer Geisterpräsenz. Anstatt dies als reinen Zufall abzutun, erkannten die Wissenschaftler der EPFL, dass sie auf einen Mechanismus gestoßen waren, der bei gesunden Menschen Präsenzhalluzinationen auslösen kann, was sich auch auf kranke Menschen auswirken könnte. Sie verfügten nun über einen subjektiven Weg, Präsenzhalluzinationen zu induzieren, mit einer robotischen Aufgabe, die die Sinne der Probanden vernebelt.
Referenzen
’024 -45912-whttps://doi.org/10.1038/s41467’024 -45912-w