Die Energieinfrastruktur zählt zu den Hauptzielen der russischen Angriffe auf die Ukraine. Das Ausmass der Zerstörung ist enorm. «Ein Jahr nach dem Beginn des Kriegs im Februar 2022 waren 76 Prozent der thermischen Kraftwerke zerstört, inzwischen sind es 95 Prozent», sagt die ukrainische Wissenschaftlerin Iryna Doronina: «Und auch sämtliche grossen Wasserkraftwerke sind ausgefallen.» Als besonders verheerend erwies sich die Sprengung des Kachowka-Staudamms. Die riesige, ausfliessende Wassermenge - die Fläche des Stausees war 1,5-mal grösser als der Kanton Zürich - zerstörte Tausende von Häusern und verwandelte den Stausee in eine Wüste.
Iryna Doronina, die vor dem Krieg Dozentin an der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kiew war, kam 2022 als «SNF Scholar at Risk» an die ETH Zürich. Dieses Programm ermöglicht es Schweizer Hochschulen, bedrohte Forscher:innen mit finanzieller Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds befristet anzustellen. Bis 2024 forschte Doronina in der Folge als Senior Researcher am ETH-Institut für Wissenschaft, Technologie und Politik (ISPT). Heute forscht sie an der Technischen Universität München (TUM). In Zürich arbeitete sie eng mit den Gruppen von Adrienne Grêt-Regamey, Professorin für die Planung von Landschaften und Umweltsystemen (PLUS), und Tobias Schmidt, Professor für Energieund Technologiepolitik und Leiter des ISTP, zusammen.
Dabei untersuchten die Forschenden namentlich die Frage, warum erneuerbare Energien beim Wiederaufbau des ukrainischen Stromsystems im Vordergrund stehen sollten. Die entsprechenden Erkenntnisse sind nun in Joule erschienen, einem führenden Journal für Energieforschung. Zur Publikation trugen auch Forschende der TU München und der Universität Bayreuth wesentlich bei. «Wir stellen fest, dass seit Februar 2022 praktisch alle grossen, zentralisierten Kraftwerke angegriffen wurden. Dadurch sank die gesamte Stromproduktionskapazität auf etwa ein Drittel des Vorkriegsniveaus», sagt Tobias Schmidt, «und auch das Netz wurde durch Angriffe auf Übertragungsleitungen und Umspannwerke besonders im Osten erheblich geschwächt.»
Kapazitätsreserven sind ein Schlüssel zum Überleben
In ihrer Studie verbanden die Forschenden georäumliche und politische Analysen. «Unsere Studie präsentiert die erste umfassende und georäumliche Kartierung des ukrainischen Elektrizitätssystems im Februar 2022 und der folgenden Zerstörung im Krieg», sagt Adrienne Grêt-Regamey, «ausserdem zeigen wir das Potenzial der erneuerbaren Energien für die Ukraine auf und benennen die politischen und regulatorischen Voraussetzungen, die erforderlich sind, um Investitionen zur erleichtern.»Im ersten Schritt erstellten die Forschenden eine detaillierte Karte der ukrainischen Energieinfrastruktur vor 2022. «Wir wollten wissen, wie gross die installierte Energiekapazität war und kartierten 1626 Objekte», erzählt Doronina: «Diese Informationen zu Anlagen, Standorten, Leistung, Produktion und Verbrauch dienen als Grundlage für die weiteren Analysen.» Mit 59 Gigawatt installierter Kraftwerksleistung zählte die Ukraine vor 2022 zu den grössten Energieproduzenten in Europa. Das Land selbst benötigte 22 Gigawatt. «Die Ukraine hatte also erhebliche Kapazitätsreserven. Diese haben meinem Land geholfen, während des Krieges zu Überleben», fasst Iryna Doronina zusammen.
Eine wichtige Rolle spielt die Kernkraft. Zwar wurde Saporischschja, Europas grösstes Kernkraftwerk im Südwesten der Ukraine, von russischen Truppen besetzt, und liefert seit September 2022 keinen Strom mehr. Doch es bleiben drei Kernkraftwerke im Osten und Süden mit sieben Reaktoren in Betrieb und versorgen die Ukraine weiterhin mit Strom. Allerdings greift Russland immer wieder das Verteilernetz an, was zu stundenlangen Stromausfällen führt, so auch in der Hauptstadt Kyjiw. «Deshalb sollte die Ukraine eine dezentralisierte Stromversorgung entwickeln», sagt Iryna Doronina. Ein zentralisiertes System lässt sich einfacher angreifen, wohingegen voneinander unabhängige Anlagen kriegsund krisenresistenter sind.
Übergang zum dezentralisierten Energiesystem
Erneuerbare Energien wie Solarund Windkraftanlagen eignen sich besonders für eine dezentralisierte Infrastruktur und lassen sich viel schneller installieren als zentrale konventionelle Anlagen. «Die Gemeinden müssen jedoch die Möglichkeit haben, auf ihrem Gebiet genügend erneuerbare Energie zu produzieren, um ihren Verbrauch zu decken», schliesst Doronina.Die Forschenden erstellten hochauflösende Karten für verschiedene Regionen der Ukraine. Diese bilden ab, in welchen Gebieten die Erzeugung von Solarund Windenergie am günstigsten ist. Das Team berücksichtige dabei verschiedene Kriterien wie Höhe und Topografie, Bevölkerungsdichte, Entfernung zu Siedlungen oder Stromnetzen. «Wir haben Schutzgebiete und staatliche landwirtschaftliche Flächen sorgfältig geprüft und sichergestellt, dass die Anforderungen und Beschränkungen der ukrainischen Gesetzgebung vollständig eingehalten werden», erklärt Doronina.
Riesiges Potential von Solarund Windenergie
In einem zweiten Schritt schätzten die Forschenden die mögliche Energieleistung nach Regionen ein. Dieses technische Potential ist enorm. So schätzen die Forschenden, dass das Potenzial der Windenergie rund 180 Gigawatt beträgt und dasjenige für Solarenergie rund 39 Gigawatt. Eine solche Gesamtkapazität von 219 Gigawatt Überträfe die Produktionskapazität von 59 Gigawatt, die die Ukraine bei Kriegsbeginn erzielte, um ein Vielfaches. Schliesslich stellen die Forschenden fest, dass das Potenzial der erneuerbaren Energien in allen regionalen Stromnetzen die im Krieg zerstörte Stromproduktionskapazität bei weitem Übersteigt.Die Forschenden nutzen das technische Potenzial auf regionaler Ebene zusammen mit sozio-politischen, wirtschaftlichen,Ökologischen und technologischen Faktoren, um zu bestimmen, welche Regionen für den Übergang der Ukraine zu erneuerbaren Energiesystemen am geeignetsten sind. Regional gesehen liegt das grösste Potenzial für Solarund Windenergie im Süden und Osten der Ukraine.
Ein neues, gut geführtes Energiesystem unterstützen
Bisher hingegen sei die ukrainische Energieinfrastruktur von ein bis zwei Oligarchen monopolisiert worden. «Diese kontrollierten den nationalen Energiemarkt und arbeiteten mit Russland zusammen. Das war auch ein Nährboden für Korruption», erklärt Vasyl Doronin, Leiter der nichtstaatlichen, ukrainischen Organisation für Wasserstoff und Co-Autor der Studie.«Die Transparenz unserer Ergebnisse verringert das Korruptionsrisiko, da die vorgeschlagenen Ansätze, um die Gebiete mit grösserem Potenzial und dringendem Sanierungsbedarf zu priorisieren, wissenschaftlich fundiert und ausgewogen sind», sagt Doronina: «Die entwickelten Karten und Datenbanken unterstützen die politische Entscheidungsfindung und sind der schnellste Weg, um den grundlegenden Energiebedarf der Bevölkerung zu decken.»
Zudem wird die Qualität der Projektvorbereitung verbessert und das Risiko für Investoren verringert, wenn der Investitionsbedarf geklärt ist. «Diese Studie, die in ihrem Bereich bahnbrechend ist, war eine der ersten, welche die Anforderungen der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien III (RED III) berücksichtigt hat, um Gebiete zu identifizieren, in denen erneuerbare Energien schnell gefördert werden sollten», sagt Vasyl Doronin. Die Ergebnisse wurden in der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission in den Niederlanden vorgestellt.
«Wir wollen wieder in der Ukraine leben und hoffen, das Land dank unserer Resultate weiter entwickeln zu können», sagt Iryna Doronina. Mit ihrer Forschung will sie die Grundlage für ein Handbuch liefern, das den ukrainischen Gemeinden die Umstellung der Energieversorgung ermöglichen soll. Ihr Ziel ist ein «Atlas des Potentials zur Transformation des Energiesektors».
Informationen für die Schweizer Behörden
Die Erfahrungen der Ukraine enthalten auch wertvolle Erkenntnisse für den schweizerischen Bevölkerungsschutz. So lieferte Doronina dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) nicht nur detaillierte Informationen zur ukrainischen Energieinfrastruktur und deren Zerstörung, sondern auch zu den Kriegsschäden für den Agrarund den Bildungssektor, also für Schulen oder Kindergärten. «Wir zeigten, wie sich der Krieg auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine auswirkte, damit die Schweizer und Schweizerinnen sehen können, wie es bei uns tatsächlich aussieht und was auch andernorts passieren könnte», sagt Doronina.Darüber hinaus stellten Doronina und ihre Kolleg:innen ihre Forschung auch auf der Veranstaltung «Re-Thinking Energy Infrastructure: Empowering Decarbonisation - Moving from Strategy to Implementation» vor, die die ETH Zürich im vergangenen Januar im House of Switzerland am WEF in Davos mitorganisierte.