Crashkurs für neue Parlamentarier

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Crashkurs für neue Parlamentarier
Wer frisch in den Nationalrat gewählt wird, steht häufig vor einem Dickicht an komplexen Themen. Die ETH Zürich vermittelte daher in einem zweitätigen Seminar wissenschaftliche Standpunkte zu relevanten Politikbereichen.  

Politisch liegen die Sozialdemokratin und Historikerin Nina Schläfli und SVP-Politiker und Landwirt Jörg Rüegsegger ziemlich weit auseinander. An diesem Morgen im Fe­bruar sind die beiden Nationalräte aber voll auf einer Linie: sie wollen von Wissen­schaft­ler­innen und Wissenschaftlern lernen.

Lächeln, angeregte Gespräche, kleine Scherze: die Stimmung im Seminarraum des Schloss Hünigen in Konolfingen bei Bern ist ent­spannt. Rüegsegger und Schläfli nehmen hier zusammen mit zahlreichen weiteren Par­la­men­tarier­in­nen und Parlamentariern, die im Oktober 2023 neu in den Schweizer Na­tio­nal­rat ge­wählt wur­den, an dem von der Swiss School of Public Go­ver­nance der ETH Zürich or­ga­ni­sier­ten An­lass teil. In den kommenden beiden Tagen las­sen sie sich von führen­den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in zentrale Themen und Fragestellungen ihrer politischen Arbeit heranführen.


Der Anlass findet nach 2015 und 2020 bereits zum dritten Mal statt. «Aufgrund der positiven Rückmeldungen aus den Fraktionen wussten wir bereits im letzten Frühjahr, dass nach wie vor ein grosses Interesse an einem Einführungsseminar besteht, in dem die neu gewählten Par­lamen­tarier­innen und Parlamentarier ihr Wissen zu politischen Kernthemen auffrischen und sich über Parteigrenzen hinweg vernetzen können», sagt ETH-Professor Robert Perich. Er ist Direktor der Swiss School of Public Governance und hat für das Se­mi­nar ausgewiesene Ex­pertin­nen und Ex­per­ten, die an sechs Schweizer Universitäten for­schen und lehren, eingeladen. Di­ese sollen den Teil­neh­men­den relevantes Wissen und damit das Rüstzeug für den politischen Ar­beits­alltag mit­ge­ben.

Nahezu alle Fraktionen sind vertreten

Die Teilnehmerliste widerspiegelt das Wahlresultat vom letzten Oktober: Mehr als drei Viertel der Teilnehmenden sind Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Mitte, der SVP und der SP, die aus allen drei Sprachregionen stammen. Eine von ihnen ist Isabelle Chappuis, die für die Mitte Partei den Sprung in den Nationalrat geschafft hat. Die Waadtländerin ist neu Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission und interessiert sich besonders für das Referat von Andreas Wenger zu den Herausforderungen der Schweizer Sicherheitspolitik.

Wenger ist Direktor des Center for Security Studies der ETH Zürich und einer der führenden Experten zu diesem Thema. In seinem Vortrag erklärt der ETH-Professor, wie sich das sicher­heitspolitische Umfeld seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verändert hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Schweiz ergeben. Für Chappuis liefert Wenger wich­ti­ge Hintergrundinformationen zu laufenden Debatten: «Der Vortrag hilft mir, einige The­men, wie die organisatorischen Veränderungen im Verteidigungsdepartement oder das Armee­budget, besser einordnen zu können», sagt sie.

Klares Rollenverständnis zwischen Wissenschaft und Politik nötig

Neben der Sicherheitspolitik stehen zehn weitere Themen auf der Tagesordnung, die in den Sachkommissionen des Parlaments zentral sind: Von der Migrationsund Finanzpolitik, über die Energieund Klimapolitik bis hin zur Mobilität der Zukunft und der Wirtschaftsstruktur der Schweiz. Für Hans Jörg Rüegsegger aus dem Kanton Bern macht vor allem die the­ma­tische Breite den Reiz des zweitägigen Seminars aus. «Durch die Vorträge kann ich mich schneller in Themen einarbeiten und erhalte wichtige Hintergrundinformationen für mögliche Vorstösse», sagt er. Das sehen auch viele andere Teilnehmerinnen und Teil­neh­mer so.


Der SVP-Parlamentarier schätzt zudem den direkten Zugang zu führenden Expertinnen und Experten. Denn auch in den Pausen tauschen sich die Teilnehmenden und die Referierenden offen zu aktuellen politischen Themen aus. Das schafft Vertrauen: «Ich würde auch nach dem Seminar eher mal auf einen der Vortragenden zugehen, wenn ich eine Frage habe», sagt Rüegsegger. Mitte-Politikerin Chappuis sieht das ähnlich: «Alle Vortragenden ha­ben klar auf­ge­zeigt, wo die Wissenschaft aufhört, und die Politik anfängt. Das macht sie zu glaub­wür­di­gen Partnern».

Für Robert Perich ist genau das ein wichtiges Ziel der Veranstaltung: «Die Wis­­sen­schaft kann keine Ent­schei­dun­gen anstelle der Politik treffen, son­dern diese le­dig­lich da­bei un­ter­stüt­zen. Wir wollen daher einen Dialog zwi­schen Parlamentsmitgliedern und Forschenden an­stos­sen, allfällige Be­rüh­rungsängste abbauen und zu gegenseitigem Vertrauen und einem geteilten Rollenverständnis bei­tra­gen», sagt er.

Wissenschaftliche Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen

Die Expertinnen und Experten scheinen ihre Sache gut zu machen - nach den Referaten gibt es von den Teilnehmenden viel Lob. So auch von Nina Schläfli aus dem Kanton Thur­gau, die in der Staatspolitischen Kommission sitzt und sich daher mit Fragen der Migrationspolitik befasst. Für sie war der Vortrag von Dominik Hangartner besonders relevant.

Der ETH-Professor und Co-Direktor des Immigration Policy Labs stellte unter anderem einen «Zu­teilungsalgorithmus» vor, der den Behörden dabei helfen kann, Geflüchtete dorthin zu schicken, wo sie höhere Chancen haben, eine Arbeit zu finden. «Da die Handlungsspielräume zur Steuerung der Zuwanderung kurzfristig recht beschränkt sind, gefällt mir dieser Fokus auf eine evidenzbasierte Integrationspolitik. Das würde der oft emo­tional geführten Debatte zur Migrationspolitik guttun», findet Schläfli.

Austausch mit erfahrenen Politikerinnen und Politikern

Die Teilnehmenden des Seminars nehmen aber nicht nur relevantes Wis­sen mit nach Hause und in ihre Frak­tio­nen - sondern auch persönliche Ver­bin­dun­gen über Parteigrenzen hinweg, die sie in un­ge­zwungenem Rahmen knüpfen konn­ten. Während der zwei Tage ist auffällig, wie offen und kollegial sich die neu­ge­wähl­ten Parlamen­tarier­innen und Par­la­men­ta­riern be­geg­nen. Dazu SVP-Politiker Hans Jörg Rüeg­s­eg­ger: «Die zahlreichen Kontakte zu Kol­le­gin­nen und Kollegen anderer Parteien er­leich­tern die Zusam­men­arbeit im Parlament. Man bleibt im Aus­tausch, ob­wohl man nicht die glei­chen po­li­ti­schen An­­sich­­ten ver­tritt.»

Darüber hinaus ermöglichte der Nachmittag des zweiten Tages den Teil­neh­men­den, sich mit ehemaligen Mit­glie­dern des Bundesparlaments, die sehr viel Er­fah­run­gen mitbringen, auszutauschen. «Wir haben sechs profilierte ehemalige Politikerinnen und Politiker al­ler Fraktionen eingeladen, die ge­mein­sam über 100 Jahre Parlaments­er­fah­rung mit­brin­gen. Gute Voraussetzungen für einen offenen und bereichernden Austausch», sagt ETH-Professor Perich.
Christoph Elhardt