Das japanische Glaubensspektrum auf 80 Bildrollen

Eine aussergewöhnliche Begegnung mit der japanischen Gesellschaft und ihren Religionen bietet eine neue Ausstellung des Völkerkundemuseums der Universität Zürich. 80 Bildrollen offenbaren die religiöse Gedankenwelt und Glaubenspraxis Japans zu Beginn der Moderne. Besucherinnen und Besucher können die vom Schweizer Theologen und Missionar Wilfried Spinner gesammelten Kultund Pilgerbilder ab 28. November im Völkerkundemuseum entdecken. 

Das Völkerkundemuseum der Universität Zürich bringt einen seit 30 Jahren in der eigenen Sammlung verwahrten Schatz ans Licht der Öffentlichkeit. Es stellt japanische Kultund Pilgerbilder aus der Edo-Zeit - der letzten feudalistischen Periode, die 1868 endete - sowie der grossen gesellschaftlichen Kehrtwende der Meiji-Zeit (1868-1912) aus. Der Schweizer Theologe, Pfarrer und Missionar Wilfried Spinner sammelte diese Bilder zu populären religiösen Figuren, Pilgerstätten und Glaubenswegen im späten 19. Jahrhundert in Japan für eigene religionshistorische Studien. Sein Versuch, die wichtigen religiösen Traditionen des Landes auf enzyklopädische Weise abzudecken, materialisiert sich in einer Sammlung von 80 Bildrollen. Die neue Ausstellung zeigt eine repräsentative Auswahl dieser sakralen Bilder und offenbart damit einen Bereich japanischer Religiosität, der bisher in kunsthistorischen und ethnologischen Kreisen kaum beachtet worden ist.

Als Mitbegründer und erster Missionar des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins hielt sich Wilfried Spinner zwischen 1885 und 1891 in Tokio, Yokohama und Kyoto auf. «Spinners Sammlung vergegenwärtigt Japan zu Beginn der Moderne als ein Reich von vernetzten heiligen Stätten. Die Bilder zeugen von einer Glaubenspraxis, die sich wenig um Grenzen und Doktrinen kümmert, und eine traditionell verankerte Koexistenz verschiedener Glaubensrichtungen wiederspiegelt», erklärt Tomoe Irene Maria Steineck, Gastkuratorin des Völkerkundemuseums der Universität Zürich.

Abbilder des gelebten Glaubens

Die japanischen Kultund Pilgerbilder sind als Hängerollen montiert und in Vitrinen ausgestellt. Ausführliche Beschreibungen informieren Besucherinnen und Besucher über ikonografische Details, Datierung, Herkunft sowie den historischen und religiösen Kontext der Bildinhalte. Das Gros der Sammlung besteht aus gedruckten, manchmal zusätzlich handkolorierten Sakralbildern, so genannten ofuda. In der Regel ist das ofuda ein Papieramulett mit einer druckgrafischen Verzierung in Schwarz und Rot. Die Gesamtkomposition kann glu?ckverheissende Symbole, das Kultbild des Tempels, den Namen des Tempels, den des Kultbilds oder beide Namen sowie ergänzende Details zum Pilgerweg enthalten. Ofuda lassen sich u.a. nach ihren konkreten Funktionen klassifizieren, wie etwa dem Schutz eines Hauseingangs, der für das Wohl der Familie von grosser Bedeutung ist, oder dem Schutz eines Kamins oder eines Küchenherds. Für beinahe jede Funktion ist der richtige Platz die Wand über der besagten Stelle - beispielsweise über einer Eingangstüre.

Eine der beliebtesten Darstellung sogenannter ikonischer Bilder zeigt Amida Buddha, der zu den meist verehrten Buddhas in Ostasien gehört. Mit ihm verbinden alle Bedürftigen und Notleidenden die Hoffnung auf eine glückliche Wiedergeburt im Jenseits. Geistliche brachten sterbenden Personen Bilder mit der Darstellung von Amida Buddha, um ihnen im Augenblick des nahenden Todes Erleichterung zu verschaffen. «Die ofuda und ikonischen Bilder verdeutlichen, dass Tempelbesuch und Pilgerreise, das Darbringen von Opfergaben und das Mitnehmen von gesegneten Gegenständen bewusst vollzogene Handlungen in einem fein strukturierten sozial-religiösen Beziehungssystem sind», erläutert Martina Wernsdörfer, die Asienkuratorin des Völkerkundemuseums.

Verbindung von alten und modernen Glaubenspraktiken

Die Ausstellung gewährt Besucherinnen und Besuchern nicht nur Einsicht in vergangene Glaubensund Pilgerpraktiken, sondern auch in aktuelle religiöse Vorstellungen und Handlungen. Denn ofuda haben die Zeit überdauert und finden sich heute in alter wie in neuer Form - beispielsweise als Miniaturtalismane für die Schultasche oder fürs Auto - als Ausdruck der Sorgen, Hoffnungen und Wünsche modernen Lebens.

1985 schenkte die Familie Spinner die 80 Bildrollen dem Völkerkundemuseum der Universität Zürich. Diese Bilder werden im Katalogteil der Begleitpublikation zur Ausstellung erstmals in ihrer Gesamtheit vorgestellt. Die Sammlung wurde jüngst im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts als faszinierende Informationsund Wissensquelle wiederentdeckt. Nicht zuletzt nutzt das Völkerkundemuseum der Universität Zürich mit der Ausstellung «WegZeichen» die Gelegenheit, sich am Gedenkjahr zum 150. Jahrestag seit Beginn der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz zu beteiligen.