
Lehm gehört zu den ältesten Baumaterialien der Welt. Doch die klebrige, schmierige Mischung aus Ton und Sand wurde im Zuge der Industrialisierung an vielen Orten durch Beton verdrängt. Damit sei auch etwas verloren gegangen, sagt Mariam Issoufou, denn Lehm ist weit mehr als nur ein Baustoff, er ist Kulturträger und Überbringer jahrhundertealter Weisheiten.

Mariam Issoufou ist sechs Jahre alt, als sie von der Hauptstadt des Niger in die Nähe von Agadez zieht. Fünf Jahre lang lebt sie dort mit ihrer Familie am Rande der Wüste. «Die Altstadt von Agadez mit ihren flachen Lehmhäusern, hat mir schon früh ein Gefühl für das Erbe einer afrikanischen Baukultur vermittelt, die im Westen völlig in Vergessenheit geraten ist», erinnert sich die ETH-Professorin heute.
Sensibilität für vergessene Bautraditionen
Wie Gebäude Menschen vor Hitze schützen, ist für Issoufou kein abstraktes Problem. «Auf meinem Heimweg von der Schule waren Temperaturen bis zu 45 Grad keine Seltenheit. Das Gefühl, in unser kühles Lehmhaus zu kommen, werde ich nie vergessen», sagt sie. Anders als Menschen, die im Westen aufwachsen, ist sie in einer wichtigen Phase ihrer Kindheit nicht von Häusern aus Beton oder Holz umgeben. Denn Lehm war in Niger Jahrhunderte lang das gängige Baumaterial, um Häuser gegen die Hitze zu isolieren.
«Architektur beginnt nicht erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit ein paar Göttern der modernen Architektur wie Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright.»
Diese Sensibilität für das architektonische Erbe ihrer Heimat prägt Issoufou bis heute. Zum Beispiel in ihren Lehrveranstaltungen, in denen sie ihren Studierenden vergessene Baukulturen vermittelt. Sie will zeigen, dass es Traditionen jenseits des modernistischen Mainstreams in Amerika und Europa gibt, von denen westliche Studierende einiges lernen können. Dazu müssen diese aber zunächst den architektonischen Tunnelblick der Moderne ablegen. «Architektur beginnt nicht erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit ein paar Göttern der modernen Architektur wie Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright», sagt Issoufou.

An lokale Bautraditionen anknüpfen
Mariam Issoufou ist in Frankreich geboren, wächst aber in Niger auf. Zur Architektur kommt sie erst spät. Nach dem Schulabschluss erhält sie die Chance, in den USA zu studieren. Computer erschienen damals als der sicherste Weg in Amerika Fuss zu fassen. Daher entscheidet sie sich für ein Informatikstudium, obwohl ihr Herz damals schon für die Architektur schlägt. Sieben Jahre lang arbeitet sie als Software-Ingenieurin bis sie sich schliesslich mit über 30 dazu durchringt, an die Universität zurückzukehren und in Washington Architektur zu studieren.Nur zehn Jahre später, ist Mariam Issoufou einer der gefragtesten Architektinnen Afrikas mit Büros in Nigers Hauptstadt Niamey, Zürich und New York. In ihren Projekten versucht sie immer wieder, lokale Bautraditionen aufzugreifen, da darin sehr viel Wissen über lokale Gegebenheiten und Probleme konserviert ist. So auch bei ihrem Entwurf für ein Zentrum für Frauen und Entwicklung in der liberianischen Hauptstadt Monrovia. Die Gebäude mit hohen, steil aufragenden Pultdächern sind von traditionellen Palava-Hütten inspiriert, deren Dächer für die starken Regenfälle in Liberia konzipiert wurden.
Mit Lehm gegen die Hitze
Schon in ihren ersten Projekten als Architektin, damals noch als Teil des Kollektivs united4design, setzt Mariam Issoufou konsequent auf den Baustoff, den sie aus ihrer Kindheit in der Wüste kennt. So baut das Architekturkollektiv 2016 in Niamey einen Wohnkomplex aus Lehm. Und auch für ein Gemeinschaftszentrum mit Bibliothek und Moschee im nigrischen Wüstendorf Dandaji verwenden Issoufou und ihre Partnerin Yasaman Esmaili Lehmziegel. Damit zeigt die Architektin, dass Lehm ein ernstzunehmender Baustoff für die moderne Architektur ist.
Die Vorteile liegen für sie auf der Hand: «Lehm kommt direkt aus dem Boden, ist voll abbaubar und ist viel billiger als Beton. Das Material hat auch sehr gute kühlende Eigenschaften und passt damit viel besser zu den klimatischen Bedingungen in Niger.» Auch bei der Wahl des passenden Baumaterials wird Issoufous Kritik an der Dominanz des Modernismus in der globalen Architektur spürbar: «Der größte Triumph von Beton ist, dass alle glauben, es sei das einzige dauerhafte Baumaterial.» Diesen kritischen Blick für lokale Gegebenheiten und vergessene Bautechniken will sie an der ETH Zürich auch an ihre Studierenden weitergeben.