Mit Mitteln der Improvisation zu mehr Selbstwirksamkeit: Das Projekt «Tools to Joyfulness» hat Schüler*innen und Lehrpersonen der Primarschule Villnachern begeistert.
Wenn rund 60 Schüler*innen aus drei unterschiedlichen Klassen in einer Turnhalle zusammenkommen, um frei zu improvisieren, ist Chaos unvermeidbar - und genau darum ging es an der Primarschule Villnachern im Projekt von Tools to Joyfulness: Durch freies Spiel und Improvisation sollen die Schüler*innen Selbstwirksamkeit erfahren, Kreativität erleben und sich im künstlerischen Ausdruck üben. Als Chaos-Zeremonienmeister für jeweils drei Lektionen während acht Wochen kam der Choreograf und Bewegungskünstler Bheki Ndlovu an die Schule. Im Rahmen von «Kultur macht Schule» (siehe Text unten) gestaltete er ein offenes Setting, um «Improvisation zu zelebrieren.» Ndlovu kreierte eine urteilsfreie Sphäre, in der die Kinder «ohne Angst und Erwartungsdruck experimentieren konnten.» Wie sich zeigen wird, haben nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrpersonen und die Organisationspsychologin der Pädagogischen Hochschule FHNW aus diesen bisweilen wilden Lektionen einiges gelernt.
Future Skill Kreativität
Aber schön von vorn. Die Idee des Projekts entstand im Austausch zwischen Simone Frey (Organisationspsychologin PH FHNW), Bheki Ndlovu und Julia Hartmann (Primarlehrerin Villnachern). «In der Schule arbeiten wir oft sehr strukturiert und mit viel Planung, Platz für Spontanität kommt somit eher zu kurz», sagt Hartmann, «dabei ist doch gerade in der heute durch verschiedene Unsicherheiten geprägten Welt die Fähigkeit wichtig, kreativ aus dem Moment heraus handeln zu können. Die Schüler*innen sollten lernen, sich zu trauen, einfach mal etwas auszuprobieren. Das hilft ihnen in Mathe genauso wie in Deutsch.» Dem pflichtet Simone Frey bei: «Unsicherheiten erfordern Kreativität. Die gehört definitiv zu den Future Skills.» Die Organisationspsychologin sieht aber auch auf Ebene der Lehrpersonenteams das Potenzial von kreativen, «zweckfreien» Settings. «Sie führen die Lehrpersonen unter anderen Vorzeichen neu zusammen, lassen sie anders miteinander zusammenarbeiten.» Dabei kommt gemäss Bheki Ndlovu ein enthierarchisierender Effekt zum Tragen: «Durch Improvisation öffnet sich ein Dialog. Man hört sich gegenseitig zu und reagiert aufeinander spielerisch.»Ganz ohne Struktur geht es natürlich nicht. Im Vorfeld des Projekts trafen sich die Lehrpersonen mehrmals mit Bheki Ndlovu, um das Vorhaben genauer kennenzulernen und quasi im Trockenen bereits erste Impro-Übungen zu machen. Simone Frey konzipierte einen Prozess mit verschiedenen Reflexionsfenstern, in denen sich die involvierten Lehrpersonen über das Projekt austauschen konnten. Zudem integrierte sie das Projekt zusammen mit der Schulleitung in die Entwicklungsbögen der Schule Villnachern und stellte Bezüge zum Curriculum her: «Die fachlichen (Musik, Bewegung und Sport, Deutsch) und die Überfachlichen Aspekte des Projekts sind ganz im Sinne des Lehrplan 21.» Das Projektteam nahm sich vor, am Ende der acht Wochen einen Vorführabend für die Eltern zu machen. Wie sie zu dieser Produktion kommen wollen, liessen sie bewusst offen.
Auf Augenhöhe
Dann kam der erste Improvisationsmorgen mit 60 Schüler*innen von drei Klassen: «Als wir die Turnhalle betraten, wussten auch wir Lehrpersonen nicht, was jetzt passieren wird», erzählt Julia Hartmann. «Wir waren genauso im Unwissen wie die Kinder. Oh mein Gott, muss ich jetzt vor allen singen’», sagt sie lachend. Die Tatsache, dass sowohl Lehrpersonen wie die Kinder vor einer neuen Erfahrung standen, hätte sie auf eine Ebene gebracht, was die Situation entspannt hätte.In der ersten Phase haben die Lehrpersonen zusammen mit Ndlovu die 60 Schüler*innen einfach agieren lassen. Julia Hartmann erinnert sich: «Wenn jemand den Clown machte, versuchten wir das aufzunehmen. Natürlich gab es manchmal Kinder, die den Rahmen gesprengt haben, aber wir konnten es immer irgendwie in eine gute Richtung drehen.» Die einzige Abmachung, die das Lehrpersonenteam getroffen hatte: «Wir sagen nicht gleich stopp.» Das bedeutete, dass sie viel weniger Kontrolle ausübten als sonst im Unterricht. «Wir wollten uns auf das Ungewisse einlassen.» Aus Sicht der Lehrpersonen hat sich das Vorgehen bewährt: Die Kinder hätten schnell Verantwortung für ihre eigene Produktion Übernommen, seien in die Initiative gegangen und hätten sich selbst organisiert. «Gerade schwächere Kinder oder Kinder mit speziellen Bedürfnissen sind aufgeblüht und wurden gut eingebunden.»
Beobachten, aber nicht kontrollieren
Bheki Ndlovu ist sich bewusst: «Die meisten Kinder lieben das Chaos. Und die Lehrpersonen sind sich das nicht gewohnt.» Sie müssten sich erst Überwinden, die Spielenergie laufen zu lassen und nur zu beobachten. «Wir machen die safety parameters, aber wir kontrollieren nicht.»Simone Frey erzählt, dass die Lehrpersonen manchmal den Drang hatten, doch jetzt erste Elemente für die Vorstellungen zusammenzuführen, ein Gerüst zu bauen, das Setting zu lenken. «Für solche Themen hatten wir die Reflexionssitzungen. Die Gewissheit, dass zeitnah bei diesen Treffen vertrauensvoll Dinge angesprochen werden konnten, gab eine Beruhigung und half, sich auf das Offene einzulassen und in der Impro-Situation nicht zu intervenieren.»
Nach der Einführungsphase wurden die Kinder in drei altersdurchmischte Gruppen eingeteilt, entsprechend ihrer Interessen und Stärken: Bewegungsoder Musikimprovisation oder experimentelle Poesie. In diesen kleineren Gruppen bereiteten sie sich auf den Aufführungsabend vor. Und je näher dieser rückte, desto engagierter wurden sie, redeten in den Pausen miteinander über mögliche Elemente, gaben sich gegenseitig Tipps und Ideen. Das Resultat bekräftigt Bheki Ndlovu: «Durch spielerische Settings wird Kindern ermöglicht, ihr Lernen selbst zu gestalten, sie werden Teil der Lösung.» Er erhofft sich, dass sein Ansatz weiter Eingang findet in die verschiedenen Fachdidaktiken. «Im Spiel gibt es keine Versagensangst. Wenn Lehrpersonen sich von der Fehlerkultur distanzieren, ja Fehler zulassen und die Kinder damit arbeiten lassen, können sie ein hohes Mass an Selbstwirksamkeit erfahren.» Die positiven Erfahrungen der Schule Villnachern mit Tools to Joyfulness haben sich herumgesprochen: Bheki Ndlovu hat bereits mehrere Schulen auf ihrem Weg zu mehr Improvisation begleitet.
In ihrem Unterricht macht Julia Hartmann mittlerweile regelmässig Improvisationsübungen, lässt die Kinder etwa bei Spielen eigene Regeln definieren. «Manchmal klappts und manchmal nicht. Wichtig ist die partizipative Haltung.» Auch Simone Frey versucht in ihren Schulcoachings und Weiterbildungsveranstaltungen mehr Raum zu schaffen für Chaos. «Man darf das den Gruppen ruhig zumuten. Lieber etwas mehr Spontanität zulassen, dafür weniger gestresst sein. Das würde uns allen guttun.»
Text: Michael Hunziker