Die Medizin schöpft das Digitalisierungspotenzial längst nicht aus

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Trotz umfassender Digitalisierung in vielen Lebensbereichen hinkt der Gesundheitssektor hinterher. Jörg Goldhahn erklärt, was die medizinische Versorgung von Banken und Reiseunternehmen lernen kann.

Ich kann den Wert meiner dritten Säule auf den Rappen genau auf meinem Handy ablesen, den Kauf eines Autos mit mehreren Klicks online tätigen, die Stromproduktion meiner Solaranlage minutengenau nachverfolgen und mit meinem gesamten Freundeskreis private Nachrichten austauschen. Aber als ich vor Kurzem in die Ferien ging, habe ich mein Impfbüchlein eingepackt, denn diese Angaben hatte ich nirgendwo digital. Nach dem Sicherheitsdebakel des digitalen Portals «Meine Impfungen» ist die Glaubwürdigkeit von medizinischer Datenverwaltung gleich noch einmal ein Stück weiter gesunken. Papier bleibt eben Papier.

Dabei wäre es nicht nur im Ausland von Vorteil, wenn ich online Zugriff auf meine Gesundheitsgenauso wie auf meine Bankdaten hätte. Warum bekommen die Banken diese komplexe digitale Transformation konsequent umgesetzt, während es im Gesundheitssystem nach einer kaum koordinierten und unlösbaren Mammut-Aufgabe aussieht? Ja klar, die Banken haben natürlich auch viel mehr Geld. Fakt ist aber auch: Sie sind auf Effizienz getrimmt. Herr und Frau Schweizer werden in den Arbeitsablauf eingebunden. Und machen die Überweisungen brav selbst - online. Tatsächlich werden dadurch Kosten eingespart, die in die Gewinne der Bank eingehen. Oder an die Kundinnen und Kunden weitergegeben werden, wie im Fall der internationalen Überweisungen auf Druck der EU.

«In der medizinischen Versorgung werden zurzeit weder finanzielle noch zeitliche Einsparungen durch Digitalisierung realisiert und wenn, dann nicht weitergegeben.»


Die Finanzbranche ist, wie wir wissen, längst nicht der einzige Sektor, der auf diese Art funktioniert. Die Reisebranche hat aufgrund des hohen Kostendrucks ebenso sehr frühzeitig erkannt, dass nur der digitale Weg Zukunft hat. Der Endkunde profitiert beim Angebot und Preis. Per Knopfdruck auswerten zu können, wer sich im Krisenfall wo auf der Welt befindet, um schnellstmöglich reagieren zu können, ist heute ein Muss.

Die genannten Beispiele zeigen eindrücklich auf, worin die gravierenden Unterschiede zum Gesundheitswesen liegen: In der medizinischen Versorgung werden zurzeit weder finanzielle noch zeitliche Einsparungen durch Digitalisierung realisiert und wenn, dann nicht weitergegeben.

Jörg Goldhahn ist Professor am Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie der ETH Zürich.

Tatsächlich fehlt in vielen Bereichen digitaler Technologie zudem bisher noch der Nachweis, dass wir damit irgendetwas einsparen können. Dabei könnten die Effekte sehr vielfältig sein: von Zeiteinsparungen bei Diagnose und Therapie bis zu operativen Abläufen im Spital wären digitale Technologien hilfreich. Geld kann sowohl bei sofort anfallenden Kosten als auch durch Vermeidung von Folgekosten oder Doppeluntersuchungen eingespart werden. Auch die möglichen Effizienzgewinne im Personalbereich sind vielfältig. Wünschenswert wäre es, wenn jede neue digitale Lösung mindestens einen Spareffekt mit sich bringt. Und dieser sollte zwingend auch weitergegeben werden - am besten an die Patientinnen und Patienten!

Jörg Goldhahn verfasste diesen Beitrag zusammen mit seiner Mitarbeiterin Anja Finkel als Kolumne für die Schweizerische Ärztezeitung .
Prof. Jörg Goldhahn