Proteomikpionier Ruedi Aebersold geht bald in den Ruhestand. Sein Lebenswerk hat er der Analyse von Proteinen gewidmet und dabei das Feld bereitet für unzählige Proteinforschende weltweit.
«Die Zeit ist wie im Flug vergangenen», sagt Ruedi Aebersold, im Büro hinter seinem Schreibtisch sitzend, und man hat den Eindruck, das Wehmut anklingt - oder echtes Erstaunen, dass nun schon seine Emeritierung ansteht. Im Januar 2020 wird es soweit sein. Am 9. Dezember wird er seine Abschiedsvorlesung halten.
Mit ihm geht ein einflussreicher Biochemiker in Pension. Er ist hoch angesehen, seine Publikationen wurden zehntausendfach zitiert, und er erhielt in seiner Laufbahn zahlreiche Preise und Ehrungen. Davon zeugen einige Urkunden, welche nebst zwei grossformatigen abstrakten Kunstwerken die Wände seines Büros zieren. «Das eine Bild repräsentiert eine fünfköpfige Familie, wie die meine, das andere gefällt mir wegen seiner farblichen Intensität», erzählt Aebersold und fügt bescheiden an: «Besonders kunstaffin bin ich indessen nicht, ich kann auch nicht gut malen oder zeichnen.»
Dafür kann er Wissenschaft, genauer gesagt: Proteomik. Dieses Fachgebiet der Biologie befasst sich mit der Gesamtheit aller Proteine, die in einem Organismus vorliegen. Aebersold ist ein Pionier auf diesem Feld, er hat Meilensteine gesetzt und wesentlich Anteil daran, dass sich heute weltweit viele Forscherinnen und Forscher mit dem Proteom von Zellen oder gar ganzen Organismen auseinandersetzen.
Seit jeher von Proteinen fasziniert
«Für Proteine interessierte ich mich schon während meines Studiums», sagt Aebersold. Er studierte Zellbiologie am Biozentrum der Universität Basel und schrieb seine Diplomarbeit über die Aktivität von Immunfaktoren. Es folgte die Doktorarbeit, in der er sich weiter in das Thema vertiefte. Über die Arbeit mit diesen Proteinen wuchs die Faszination für diese Moleküle. «Während meiner ganzen Karriere bin ich bei den Proteinen geblieben. Sie wurden für mich zum Glücksfall.»
«Während meiner ganzen Karriere bin ich den Proteinen treugeblieben. Sie wurden für mich zum Glücksfall.» Ruedi Aebersold
Proteine sind meist komplexe Moleküle. Mit ihnen zu arbeiten war Ende der 1970er Jahre umständlich und teuer. «Wir konnten mit nur sehr wenigen Proteinen arbeiten, weil wir für Analysen von jedem Protein grosse Mengen in hochreiner Form benötigten», erklärt der ETH-Professor. Damals wäre es verlockender gewesen, mit DNA zu arbeiten, weil damit zu der Zeit schnellere und grössere Fortschritte erzielt wurden als mit Proteinen. Sein Doktoratsbetreuer, der Biochemiker Dietmar Braun von Ciba-Geigy, verfolgte jedoch die Forschung an Proteinen konsequent weiter und baute in der Pharmafirma eine entsprechende Gruppe auf.
«Ciba-Geigy hatte eine starke Proteinchemiegruppe, der ich mich schon während der Diplomarbeit anschliessen konnte», erinnert sich Aebersold. Sie habe über Laboreinrichtungen verfügt, welche am Biozentrum nicht vorhanden war. «Dort konnte ich mir Fähigkeiten in dieser Nische aneignen, die sich später als sehr nützlich erwiesen haben», sagt Aebersold.
Als Doktorand besass er ein Buch, welches alle damals bekannten Aminosäuresequenzen von Proteinen beinhaltete. Das Bändchen war dünn. Aebersold hat es noch heute. «Dieses Werk motivierte mich, Techniken voranzutreiben, mit denen Aminosäuresequenzen von Proteinen einfacher als bisher bestimmt werden können.»
Eintauchen in ein kreatives Chaos
Das Labor, das ihm dies erlauben sollte, war dasjenige von Lee Hood am Caltech in den USA. Dieses Labor war führend bei der Laborautomatisation und der Entwicklung von Analysengeräten. Bei Hood habe eine besondere Atmosphäre geherrscht, erinnert sich Aebersold: «Es war ein kreatives Chaos.»
In der Zeit konstruierte Aebersold zusammen mit Chemikern und Ingenieuren seine erste Proteinsequenziermaschine, die einen komplizierten chemischen Prozess, die Edman-Degradation, in automatisierter Form umsetzte.
Nach Ende seines Postdoktorats übersiedelte Ruedi Aebersold und seine Frau mit mittlerweile drei kleinen Kindern nach Vancouver an die Universität von British Columbia, wo er in den 1980er Jahren als Assistenzprofessor seine erste Gruppe aufbauen konnte.
Die Massenspektrometrie durchlief zu dieser Zeit eine rasante Entwicklung. Ein anderer Forscher, John Fenn, hatte eben die Elektronenspray-Ionisierung erfunden. Damit konnten erstmals grosse, instabile Moleküle wie Proteine ionisiert, also elektrisch geladen und in dieser Form in das Vakuumsystem eines Massenspektrometers überführt werden. So wurde es möglich, im Massenspektrometer die Massen dieser Moleküle und sogar ihre Aminosäurensequenz zu bestimmen.
Aebersold schaffte sich ein solches Analysegerät an und nutzte es für Proteinbestimmungen - die Grundlage für sein weiteres Schaffen war gelegt. «Durch Zufall war ich durch meine Ausbildung gut positioniert, um biologisch relevante Daten zu generieren und nicht nur chemisch-analytische», sagt er.
Produktive Zeit in Seattle
Wieder sollte es Lee Hood sein, welcher der Karriere des Schweizers neue Impulse verlieh. Hood war 1992 von Kalifornien nach Seattle umgezogen, wo er an der Universität von Washington ein neues Departement aufbauen konnte. Hood musste Professoren für das Departement rekrutieren und klopfte bei Aebersold an. Dieser nahm das Angebot an und zügelte mit seiner Familie von Vancouver nach Seattle.
Die Zeit an der Universität von Washington beschreibt Aebersold als sehr produktiv. Unter anderem wurden zwei Zentren für Genomik und erstmals eines für Proteomik gegründet. Es herrschte Aufbruchstimmung. Dennoch kamen die Forscher nicht wie gewünscht voran, was mit der Struktur des Departements zu tun hatte: Die Gruppen konnten nicht mehr wachsen. «Gerade die Proteomik ist förmlich explodiert, doch aus Platzmangel konnten die Gruppen nicht wachsen und zusätzliche Professuren konnten nicht ausgeschrieben werden», erinnert sich Aebersold.
Privates Institut mitbegründet
Um der Sackgasse zu entkommen, welche der universitäre Weg darstellte, gründeten er, Hood und der Immunologe Alan Aderem im Jahr 2000 das private Institut für Systembiologie in Seattle und kündigten ihre Festanstellungen an der Universität. «Wir hatten Lebensstellen und Verantwortung für unsere Familien. So mussten wir uns überlegen, ob dieser Schritt zu verantworten war, denn wir hatten plötzlich keine stabile finanzielle Grundlage mehr», sagt Aebersold. «Aber das Risiko war kalkulierbar.» Und es sollte sich auszahlen.
Von Vorteil war für die Forscher, dass zu dieser Zeit die Politik der Wissenschaft und Forschung wohlgesonnen war. Der damalige US-Präsident Bill Clinton verdoppelte das Budget der National Institutes of Health. Dadurch konnten Aebersold und Kollegen genügend Mittel für ihr neues Institut einwerben um dessen Betrieb zu finanzieren.
Wegbereiter für die Proteomik an der ETH
Doch kaum hatte Aebersold den Schritt in die Selbständigkeit gewagt, ereilte ihn der Ruf nach Zürich. Sein ehemaliger Kommilitone Ernst Hafen, damals Professor an der Universität Zürich, fragte ihn 2002 an, ob er an der ETH und der Universität Zürich einen Kurs in Proteomik aufbauen wolle. Aebersold nahm das Angebot an - was den letzten grossen Karriereschritt einleitete.
Der Proteomikpionier lernte in der Zeit verschiedene Exponenten des Departements Biologie kennen, unter anderem den damaligen Departementsvorsteher, Hans Hengartner. Unter dessen Leitung beschloss das Departement, das Institut für Biotechnologie aufzuheben und als Institut für molekulare Systembiologie neu auszurichten. Das war möglich, weil im Institut für Biotechnologie zu dieser Zeit ein Generationswechsel anstand. Aebersold sollte das Institut für molekulare Systembiologie aufbauen und dessen erster Leiter werden. Und so kam es, dass er und seine Frau 2005 in die Schweiz zurückkehrten.
Doch dies hatte ihren Preis: die Familie wurde auseinandergerissen. «Wir warteten, bis unsere jüngste Tochter 18 war und ins College kam - dann verlassen die Kinder in den USA das Elternhaus sowieso. Erst danach zogen meine Frau und ich in die Schweiz.» Ihre beiden älteren Kinder waren mittlerweile erwachsen, auch sie blieben in den USA. «Das war hart. Wir brauchten lange, um diese Entscheidung zu treffen», sagt der Professor.
Heute leben seine Kinder noch immer in den Vereinigten Staaten, an drei verschiedenen Orten. Um die Familie zu versammeln, haben sich die Aebersolds ein Domizil ausserhalb von Seattle gekauft. Dort trifft sich die Familie mindestens einmal im Jahr. In seine Fussstapfen als Wissenschaftler ist keines der Kinder getreten.
Das Privileg, an der ETH zu forschen
Mittlerweile arbeitet Ruedi Aebersold seit 15 Jahren als Doppelprofessor der ETH und der Universität Zürich auf dem Hönggerberg. Die Bedingungen an der ETH seien top. Die ETH sei sehr gut aufgestellt, weil verschiedene Disziplinen auf engem Raum erforscht würden, was interdisziplinäres Arbeiten fördere und erleichtere.
«Die ETH erlaubt es ihren Professoren, riskante Forschung zu betreiben, weil sie nicht fürchten müssen, dass sie bei einem Fehlschlag weniger oder keine Mittel mehr erhalten.» Ruedi Aebersold
Auch dem ETH-Finanzierungsmodell windet Aebersold ein Kränzchen. Da Professorinnen und Professoren über ausreichend freie und langfristige Forschungsmittel verfügen, können sie neuen Ideen oder ungewöhnlichen Beobachtungen nachgehen. Die ETH erlaube es ihren Professoren, «riskante» Forschung zu betreiben, weil sie nicht fürchten müssten, bei einem Fehlschlag weniger oder keine Mittel mehr zu bekommen. In USA sei das anders. Dort werde oft nur noch Forschung betrieben, bei der die Wissenschaftler sicher seien, dass es klappe, damit Folgeprojekte kontinuierlich finanziert würden. «Auf diese Weise macht die Forschung kaum mehr grundsätzliche Fortschritte», sagt Aebersold. Viele grundlegende Erkenntnisse kämen aus ungewöhnlichen Beobachtungen heraus. «An der ETH haben wir das Privileg, dass wir solchen Sachen nachgehen können.»
Zu den Höhepunkten seiner Zeit in der Schweiz zählt er etwas auf, was Aussenstehende vielleicht nicht erwarten würden: «Systems X.ch», die universitätsübergreifende Initiative für Systembiologie des Bundes, welche Aebersold mitgestaltete. Zu Beginn sei es ein kleiner Verbund der Universitäten Basel, Zürich und der ETH Zürich gewesen, später wurde das Programm auf Forschungseinrichtungen der gesamten Schweiz ausgeweitet. «Mit diesem Programm erreichten wir über 2000 Forscherinnen und Forscher, die sehr interessante Resultate mit überdurchschnittlichem Impact erzielten», resümiert Aebersold.
Reichhaltiges Programm nach der Emeritierung
Nun neigt sich seine Zeit als Professor dem Ende entgegen, seine Labors werden geräumt, die Gruppe verkleinert. Ganz aufgeben wird er die Forschung nicht. Aebersold wird nach seiner Emeritierung weiter zwei Tage pro Woche an einem Projekt in Gebiet der personifizierten Onkologie mitarbeiten. Dabei handelt es sich um ein grosses Verbundprojekt zwischen der ETH, der Universität Zürich, den Universitätsspitälern Zürich und Basel und der Pharmafirma Roche. Zudem ist er beteiligt an zwei Spin-offs, die aus seinem Labor hervorgingen, ProteoMedix und Biognosys.
Ein ziemlich volles Programm für einen Pensionierten, doch Zeit, Hobbies zu pflegen, hatte Aebersold bis anhin sowieso nicht. Mehr Velofahren möchte er, mit seinem Segelschiff auf dem Thunersee kreuzen, noch etwas von der Welt sehen. «Ich bin bisher in meinen Ferien nie ganz heruntergefahren», sagt er. Der Preis sei zu hoch, wenn nach einer Auszeit die Arbeitslawine auf einen niedergehe. «Für mich hat es so funktioniert. Ich empfand meine Arbeit ja nie als malochen.» Er habe immer eine sehr interessante Tätigkeit ausgeführt. «Das habe ich stets als Privileg empfunden, nicht als Pflicht.»
Abschiedsvorlesung Ruedi Aebersold
Opportunities created, opportunities seized, and opportunities missed , 9. Dezember 2019, 17:15 - 18:00 Uhr, Zürich Zentrum HG F 30 (Auditorium maximum). Eintritt ist frei.