Gerold Stucki und Sara Rubinelli, das Schweizer Gesundheitssystem wird oft für seine hohe Qualität gelobt - ein Irrtum?
Gerold Stucki : Das Grundproblem ist, dass Gesundheitssysteme weltweit nicht berücksichtigen, was «Gesundheit» für das Individuum bedeutet: Es geht nicht nur darum, von einer Krankheit geheilt zu sein oder am Leben zu bleiben. Sondern auch darum, wie es um die sogenannte Funktionsfähigkeit steht. Konkret: inwiefern man seinen Alltag selbstständig bewältigen und das tun kann, was einen wesentlichen Einfluss auf das eigene Wohlbefinden hat - zum Beispiel, am sozialen Leben teilzuhaben oder einer Arbeit nachzugehen. All diese Aspekte hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter dem Begriff der «Funktionsfähigkeit» zusammengefasst und dafür 2001 mit der ICF (Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) ein eigenes Klassifikationsschema eingeführt. Das Gesundheitswesen müsste darauf ausgerichtet sein, die Leistungen so zu erbringen, dass über die ganze Lebensspanne hinweg eine bestmögliche Funktionsfähigkeit erreicht werden kann.
Sara Rubinelli : Die Gesundheitssysteme stützen sich noch immer in erster Linie auf Daten zur Mortalität und Morbidität ab, also auf die Häufigkeit der Todesfälle und der Erkrankungen in einer Gesellschaftsgruppe. Das greift viel zu kurz, gerade auch angesichts der Tatsache, dass Menschen immer älter werden und häufiger unter chronischen Erkrankungen leiden. Dank dem Fortschritt der Medizin profitieren diese Menschen von einer verlängerten Lebensspanne. Wir müssen nur schon deshalb unser Gesundheitssystem viel mehr darauf ausrichten, wie wir ihren Bedürfnissen und ihrem tatsächlich gelebten und gefühlten Gesundheitszustand besser gerecht werden.
Auf politischer Ebene drehen sich die Diskussionen vor allem um die Kosten im Gesundheitswesen. Wie stellen Sie sicher, dass eine solche ganzheitliche Perspektive nicht von vornherein abgewürgt wird?
Stucki: Das Prinzip der Funktionsfähigkeit hat sich im Bereich der Rehabilitation in der klinischen Praxis und im Benchmarking bereits durchgesetzt. National wie international gehört das Erfassen der entsprechenden Indikatoren zum Standard, die Wirksamkeit ist erwiesen. Die Bedeutung der Funktionsfähigkeit müsste aber im Gesundheitssystem als Ganzes besser verankert sein. Wir brauchen ein neues Verständnis von Gesundheit - und somit einen Paradigmenwechsel.
Welche Rolle spielt die Universität Luzern dabei?
Stucki: Wir haben an unserer Fakultät die methodischen Grundlagen entwickelt, um die ICF-Klassifikation der WHO in der klinischen Praxis, der Leistungserbringung und in politischen Entscheidungen anwenden zu können. Eine wichtige Basis dafür war das Projekt im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 74, «Smarter Health Care». Wir haben in diesem Rahmen die Grundlagen für den sogenannten «Life Ruler» entwickelt, mit dem Daten zur Funktionsfähigkeit in Spitälern und Kliniken standardisiert erfasst werden können. In Zusammenarbeit mit der WHO soll der «Life Ruler» bis 2030 weltweit Eingang finden. Die Voraussetzungen wären also gegeben, dass sich unser Gesundheitswesen nicht mehr nur auf Daten zu Mortalität und Morbidität stützt. Die Universität Luzern ist international führend in dieser Methodenentwicklung. So führte die renommierte amerikanische «National Academy of Sciences» im vergangenen Februar mit uns in Luzern den Workshop «Aging, Functioning and Rehabilitation» durch. Die Teilnehmenden kamen aus allen WHO-Regionen, und der Anlass wurde international Übertragen.Sie sind auch nicht untätig, einen Sinneswandel in Politik und Gesellschaft herbeizuführen.
Stucki: Genau darauf zielen wir mit «LIFE» ab, der «Luzerner Initiative für Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Wohlbefinden». Wir wollen damit dazu beitragen, von einem zweizu einem dreidimensionalen Gesundheitsinformationssystem zu gelangen. Damit legen wir die Grundlage für eine Neuausrichtung - hin zu einer patientenzentrierten Leistungserbringung, von der Akutbis in die integrierte Grundversorgung. Um Funktionsfähigkeit als dritten Indikator zu etablieren, muss das Prinzip in der breiten öffentlichkeit, in der Wissenschaft sowie der Politik und der klinischen Praxis bekannter gemacht werden.Rubinelli: «LIFE» spielt eine wichtige Rolle, um unseren Anliegen Gehör zu verschaffen. Mir scheint es sehr wichtig, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, wonach es sich bei der Funktionsfähigkeit weder um eine Ideologie noch um ein Konzept handelt. Sie bildet schlicht und ergreifend ab, wie sich der Mensch in dieser Welt verortet und was «Leben» Überhaupt bedeutet. Es geht darum, Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben selbstständig und ihren Bedürfnissen entsprechend leben zu können. Wenn ein Gesundheitssystem die Versorgungsstrukturen dieser Logik anpasst, dann lassen sich viele Behandlungen und Operationen vermeiden - Folgekosten, die nicht entstehen, weil wir den Menschen in seiner Ganzheit erfassen, statt Gesundheit einfach als Abwesenheit von Krankheit zu verstehen. So gesehen ist es von Belang, dass wir nicht nur eine gesundheitswissenschaftliche oder Ökonomische Perspektive fördern. Genauso wichtig ist der philosophische Zugang.
Die Erfahrung einer Behinderung ist nicht die Erfahrung einer Minderheit, sondern eine, die wir fast alle miteinander teilen werden.
Wie kann das gelingen?
Stucki: Die Universitäten müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Entsprechend war bei uns die integrierte Perspektive von Beginn an Bestandteil des Studiums der Gesundheitswissenschaften. Auch die Interdisziplinarität spielt eine entscheidende Rolle. Ein wichtiger Ansatz ist, einen neuen wissenschaftlichen Zugang im Sinne von Funktionsfähigkeitswissenschaften zu etablieren. Einen ähnlichen Weg sind auch die Neurowissenschaften gegangen, wo es selbstverständlich ist, dass unterschiedliche Disziplinen zusammenspannen. Einen bedeutenden methodischen Ansatz zur Implementierung des dritten Indikators in das Gesundheitssystem stellt das «Lernende Gesundheitssystem» dar, welches in Luzern mit dem «Swiss Learning Health System» bestens etabliert ist.Rubinelli: Wir wollen auch eine internationale Community bilden, die eine breitere Perspektive auf das Thema Gesundheit einnimmt, ganz im Sinne unserer Überzeugung, dass die Funktionsfähigkeit ein elementarer Bestandteil sein muss. Dazu gehört das Bewusstsein, dass wir alle früher oder später in unseren Funktionen eingeschränkt sein werden und dass mindestes ein Drittel aller Menschen auf eine Reha angewiesen sein wird. Die Erfahrung einer Behinderung ist nicht die Erfahrung einer Minderheit, sondern eine, die wir fast alle miteinander teilen werden.
Es wäre also im Sinne eines jeden Einzelnen, wenn im Gesundheitswesen die Gesundheit vermehrt auch von ihrer sozialen Dimension her verstanden würde?
Stucki: Ja, aber davon profitierte auch die Gesellschaft als Ganzes, indem mehr Menschen gesellschaftlich sinnhafte Aufgaben wahrnehmen könnten, statt dass sie auf eine Krankheit reduziert würden. Auch damit hängt letztlich ein gutes Leben zusammen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, das die positiven Folgen einer Orientierung an der Funktionsfähigkeit aufzeigt?
Stucki: Die medizinische Behandlung der Einschränkungen im Alter ist essenziell. Aber es braucht eben auch Unterstützung, damit Betroffene möglichst lange an der Gesellschaft teilhaben und den Alltag meistern können - dies gelingt durch die Rehabilitation als integralen Bestandteil der Grundversorgung. Wenn die körperliche, aber auch die geistige Funktionsfähigkeit abnimmt, muss das nicht einfach hingenommen werden. Wir können Muskelkraft, Beweglichkeit und Ausdauer, aber auch kognitive Kompetenzen wie Gedächtnis und Problemlösungsfähigkeit trainieren. Für Menschen mit Querschnittlähmung sind mit dem Prinzip der Funktionsfähigkeit grosse Fortschritte erzielt worden. Eine nationale Studie, koordiniert durch die Schweizer Paraplegiker- Forschung, hat die Bedingungen erforscht, wie sich die Gesundheitsversorgung von Menschen mit einer Querschnittlähmung verbessern lässt. Die Studie wurde zusammen mit der WHO weltweit auf insgesamt 36 Länder ausgedehnt und bildet die Grundlage, entsprechende Massnahmen zu treffen.
Rubinelli: Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, stossen in einer Umgebung, die nicht auf Barrierefreiheit ausgelegt ist, schnell an Grenzen. Ihre Funktionsfähigkeit kann jedoch durch Hilfsmittel oder Veränderungen in der baulichen Umgebung verbessert werden, sodass sie sich idealerweise ungehindert bewegen und am Leben teilnehmen können. Es gibt Länder, in denen die Gesundheitssysteme die Kosten für grundlegende Hilfsmittel und Dienstleistungen zur Optimierung der Funktionsfähigkeit der Menschen nicht erstatten. Das ist nicht nur für die Betroffenen schlimm. Dieses reduzierte Verständnis von Gesundheit lässt die dadurch entstehenden Sozialkosten völlig aussen vor.
Fakt ist: Die Bevölkerung wird immer älter, chronische Krankheiten nehmen zu, und viele Menschen, die früher gestorben sind, haben weitere Lebensjahre vor sich.
Das heisst, die hiesigen Entwicklungen im Bereich der Querschnittlähmung sollten vermehrt als Vorbild dienen?
Stucki: Ja, denn das würde vermehrt das Bewusstsein wecken für den sogenannten «loss of not investing in functioning». Es ist heute in der Schweiz zum Glück selbstverständlich, dass querschnittgelähmte Menschen an allen Lebensbereichen teilhaben und damit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Fakt ist: Die Bevölkerung wird immer älter, chronische Krankheiten nehmen zu, und viele Menschen, die früher gestorben sind, haben weitere Lebensjahre vor sich. Nur schon angesichts dieser Entwicklungen muss eine Gesellschaft alles dafür tun, ihre Funktionsfähigkeit zu erhalten.
So gesehen, ist dieser angestrebte Paradigmenwechsel ein zutiefst humanistisches Anliegen.
Rubinelli: Ja, und im Grunde genommen handelt es sich um ein soziales und liberales Anliegen: Eine solche Perspektive erhöht einerseits die Lebensqualität der Betroffenen und ihres Umfelds, andererseits profitiert die Gesellschaft. Die Universität Luzern mit ihrer humanwissenschaftlichen Ausrichtung und ihrer Interdisziplinarität ist geradezu der ideale Ort für die Expertise rund um Funktionsfähigkeit. Die Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin war - zuerst noch als Departement - und ist auf ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit angelegt, das der Funktionsfähigkeit auch im Sinne der WHO eine entscheidende Rolle zuweist.Die Klassifizierung der Funktionsfähigkeit erfolgte ja bereits 2001. Hätte sich seither nicht viel mehr bewegen müssen?
Stucki: Bei einem derartigen Paradigmenwechsel sind zwanzig Jahre eine kurze Zeit. Wir haben es sicher mit einem Hürdenlauf zu tun. Aber denken wir nur an die Schweizer Paraplegiker-Stiftung: Sie hat es geschafft, das Bild von Menschen im Rollstuhl komplett zum Positiven zu verändern. Dafür braucht es nicht nur ein entsprechendes Versicherungssystem, sondern eben auch ein Umdenken und eine Anpassung der Leistungserbringung, wo die dezentrale Ausrichtung ein wichtiger Erfolgsfaktor ist.
Rubinelli: Das Hauptproblem ist heute, dass die Daten zur Funktionsfähigkeit ausserhalb des Rehabilitationskontextes weder systematisch erfasst noch angewendet werden. Diese Daten in der Leistungserbringung und der klinischen Praxis zu nutzen, könnte die Etablierung der Funktionsfähigkeit als dritten Indikator im gesamten Gesundheitswesen massgebend beschleunigen. In der Leistungserbringung wird der Einfluss von Umweltund sozialen Faktoren auf die Gesundheit der Individuen zu wenig berücksichtigt. Wir brauchen einen Wandel vom krankheitszum personenbezogenen Ansatz.
Die Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin ist weltweit führend in der Forschung zur Funktionsfähigkeit, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2001 mit der ICF klassifiziert wurde (siehe Interview). Die Funktionsfähigkeit umfasst neben der biologischen auch die gelebte Gesundheit. Dazu gehört, wie Menschen auf der Grundlage ihrer biologischen Gesundheit ihren Alltag bewältigen und am sozialen Leben teilhaben. Neben der Forschung zur Funktionsfähigkeit setzt die Fakultät einen Akzent auf die Implementierung, konkret mit der Initiative «LIFE», die von der ganzen Universität getragen wird. Damit soll zu einem Umdenken nicht nur im Gesundheitswesen, sondern in der ganzen Gesellschaft beigetragen werden - eine Grundvoraussetzung für den angestrebten Paradigmenwechsel.
Dieser Paradigmenwechsel wird interdisziplinär vorangetrieben: So sollen sich über alle Fakultäten hinweg Professuren mit Themen rund um «LIFE» befassen. Bereits etabliert sind Professuren für Rehabilitation and Healthy Ageing sowie für Functioning Epidemiology. Damit wird zugleich ein neues Wissenschaftsgebiet gefördert: die «Human Functioning Sciences», also die Wissenschaft der interdisziplinären menschlichen Funktionsfähigkeit in der Interaktion von Mensch und Gesellschaft. Über die nächsten Jahre sollen eine «Human Functioning Sciences School» sowie eine Community aufgebaut werden. Im Rahmen des regelmässig durchgeführten «LIFE-Forum Rehabilitation» tauschen sich Expertinnen und Experten aus aller Welt aus.
Die erste Ausgabe fand in diesem Februar statt. Renommierte Forschende, Praktiker und politische Entscheidungsträgerinnen und -träger widmeten sich der Resolution der WHO zur Stärkung von Rehabilitation in Gesundheitssystemen und diskutierten darüber, was dies für die Schweiz bedeutet. Im Anschluss trafen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen WHO-Regionen zum Workshop «Altern, Funktionsfähigkeit und Rehabilitation», organisiert durch die US-amerikanische National Academy of Sciences. (ms.)
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