Martin Ackermann bewegt sich als Leiter der COVID-19 Science Task Force des Bundes in einem unentwegten Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik, Medien und Gesellschaft. Ein Gespräch.
Herr Ackermann, Sie sind Leiter der Swiss National COVID-19 Science Task Force und beraten in dieser Funktion den Bundesrat während der Coronapandemie. Wären Sie manchmal gerne selber Bundesrat?
Das habe ich mir so noch gar nie überlegt. In der aktuellen Situation fände ich es tatsächlich manchmal befriedigender, nicht nur vorzuschlagen, sondern auch mitzuentscheiden. Insofern wäre das eigentlich eine spannende Idee. Aber ich habe auch gemerkt, wie gross der Druck und die Verantwortung von Politikerinnen und Politikern sind - ich bleibe vielleicht doch lieber Professor (lacht).
Ihr Handlungsspielraum beschränkt sich also auf Empfehlungen?
Wir stellen wissenschaftliche Grundlagen zur Verfügung, die Politik trifft Entscheidungen. Als Leiter der Task Force trete ich auch an den Points de Presse des Bundes auf. Im Hintergrund dreht sich aber vieles um die Beziehungspflege und den Dialog. Es hat seine Zeit gebraucht, bis wir das Vertrauen der Politik gewonnen haben. Wir können unseren Job ja nur gut machen, wenn jene, die Entscheidungen fällen, uns vertrauen. Dabei haben wir verschiedene Aufgaben: Wir sind die Stimme der Wissenschaft, wir beraten die Regierung und wir informieren die öffentlichkeit. Zwischen diesen drei Aufgaben gibt es auch Spannungsfelder. Als unabhängige Stimme sollten wir die Regierung kritisch hinterfragen, doch die Beraterrolle funktioniert nur, wenn die Politik Vertrauen in uns hat.
Was haben Sie in den letzten Monaten über Politik gelernt?
Ich habe grossen Respekt davor, was Politikerinnen und Politiker leisten. Ihre Arbeit ist stark von den Rahmenbedingungen geprägt. In dieser Art kenne ich das als Wissenschaftler nicht. In der Forschung legen wir den Standard selber fest, den wir erreichen wollen, und arbeiten dann so lange, bis wir ihn erreicht haben. In der Politik sind die Sachzwänge so gross, dass sie alles beeinflussen. Ich habe aber auch Politikerinnen und Politiker kennengelernt, die nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft der Pandemie gut verstehen.
Und was über Medien?
Ich bin beeindruckt, wie gut gewisse Journalisten und Journalistinnen den Überblick behalten. Ich lerne aus Gesprächen mit ihnen mindestens genauso viel wie sie. Aber ich habe auch erfahren, dass die Medien einen starken Antrieb haben, Differenzen zu betonen. Da ihr «Public Health Impact» gross ist, können sie so auch Schaden anrichten und ich bin mir nicht sicher, ob sich alle dieser Verantwortung immer bewusst sind. Aber natürlich sind Medien dazu da, die offiziellen Botschaften und Entscheide auch kritisch zu hinterfragen.
Man hat den Eindruck, die Schweiz tue sich schwer mit dieser Krise. Täuscht dieser Eindruck?
Ich teile diesen Eindruck. Vor allem im Herbst steckten sich sehr viele Menschen an, es starben sehr viele Menschen.
Überrascht Sie das?
Ja, es überrascht mich. Natürlich übertrifft diese Krise schlicht alles, was ich mir vorstellen konnte - dennoch dachte ich, wir kriegen das besser hin. Dass wir evidenzbasiert handeln, viele Werkzeuge einsetzen, unsere technologischen Möglichkeiten nutzen. Ich hatte hohe Erwartungen und bin enttäuscht worden.
Liegt das vielleicht an unserem Selbstbild, wir seien besser als die anderen?
Die grösste Schwierigkeit ist meiner Ansicht nach, dass sich in der Schweiz sehr schnell die Auffassung verbreitete, man müsse sich zwischen Gesundheit und Wirtschaft entscheiden. Das hat die Diskussion sehr stark geprägt. Deshalb fiel es uns schwer, früh beherzt einzugreifen. Der Konsens der Task Force ist diesbezüglich klar: Es ist auch ökonomisch besser, harte Massnahmen zu treffen, welche die Fallzahlen schnell herunterbringen, als weiche Massnahmen zu ergreifen und lange Perioden mit hohen Fallzahlen in Kauf zu nehmen.
Dennoch: Wie will man der Bevölkerung harte Massnahmen verkaufen, wenn selbst auf dem Höhepunkt der zweiten Welle noch ein Viertel der Intensivbetten frei war?
Die Krux ist, dass wir schlecht mit exponentiellen Prozessen umgehen können. Als die Fallzahlen im Oktober schnell anstiegen, wurde vorgeschlagen, 200 zusätzliche zertifizierte Intensivbetten bereitzustellen und das Personal vier Stunden pro Woche länger arbeiten zu lassen. Im Wissen, dass diese Vorschläge in der Praxis gar nicht realisierbar sind, hat die Task Force die Wirkung dieser Massnahmen berechnet. Wir hätten gerade mal 36 Stunden gewonnen! Wenn man eine exponentielle Entwicklung hat, nützen lineare Massnahmen nichts. Aber das will man zu Beginn einer solchen Entwicklung eben nicht wahrhaben.
Gibt es deshalb so viele skeptische Menschen?
Die meisten Menschen spüren in ihrem Alltag nichts oder nicht viel vom Coronavirus, selbst wenn die Spitäler gefüllt sind. Du siehst es nicht, du spürst es nicht, aber alle sagen dir, da sei etwas ganz Schlimmes und du müsstest dich deshalb stark einschränken. Das ist eine schwierige Konstellation. Insofern erstaunt es mich nicht, dass viele Menschen skeptisch sind. Deshalb ist es wichtig, dass Spitalmitarbeitende und Betroffene aus ihrem Alltag erzählen.
Man hat den Eindruck, wissenschaftliche Argumente würden viele Menschen nicht mehr überzeugen. Haben wir etwas falsch gemacht?
Ich glaube, am Ende hat es viel mit Einfühlungsvermögen zu tun. Wenn man die Leute abholen will, muss man zuerst wissen, wo sie stehen. Zuhören und verstehen, wieso jemand zu seinen Ansichten kommt, ist extrem wichtig. Aber das ist natürlich schwierig, wenn man eine ganze Gruppe vor sich hat wie beispielsweise an einem Point de Presse. Dazu braucht es Gespräche mit einzelnen Personen.
Welche Kompetenz brauchen Sie momentan am meisten?
Reden mit den Leuten, im Austausch sein. Das Wichtigste ist die Pflege von Beziehungen: zuhören, verstehen, damit wir gemeinsam Lösungen finden können. Und nicht eingeschnappt sein, wenn etwas nicht läuft. Es gibt Aspekte dieser Pandemie, die nah an meinem Fachgebiet sind, und wissenschaftliches Fachwissen ist wichtig für die Arbeit in der Taskforce. Aber das allein reicht nicht aus.
Genau, Sie sind ja Professor an der ETH. Haben Sie überhaupt noch Zeit dafür?
Ich konnte fast alle Aufgaben übergeben, die ETH und die Eawag sind beide extrem unterstützend. Schwierig ist es für meine Forschungsgruppe. Ich halte mir zwar Zeiten für einzelne Gespräche frei, aber es ist eine Durststrecke. Das ist vor allem schwierig, weil es um die Laufbahnen von talentierten, jungen Menschen geht.
Und wie gehen Sie persönlich mit der Belastung um? Können Sie noch abschalten?
Ich wache oft mitten in der Nacht auf und bin dann sofort in Gedanken bei der Pandemie. Aber ich bin achtsam, dass ich meine Reserven nicht zu schnell aufbrauche. Was mir viel Energie raubt, ist Streit. Da bin ich sehr empfindlich, das setzt mir zu. Aber das kommt zum Glück sehr selten vor. Die meisten Begegnungen verlaufen positiv. Am Ende haben wir ja alle das gleiche Ziel und das merkt man auch.
Sehen Sie auch positive Aspekte dieser Störung?
Wir hatten ein bestimmtes Bild von uns, von der Schweiz. Dieses Bild wird gerade sehr herausgefordert. Das tut auch weh. Das Gute daran ist, dass wir jetzt etwas lernen können: Wie schnell können wir neue Technologien aufnehmen? Wo stehen wir in der Digitalisierung? Als Wissenschaftler ist es spannend, aus der eigenen Bubble herauszugehen und bei diesen drängenden Problemen mitzuhelfen.
Und für Sie persönlich?
Es ist eine harte Zeit und manchmal bin ich einfach nur erschöpft. Aber die Aufgabe ist gleichzeitig auch eine Chance. Gibt es etwas Schlimmeres, als sich ohnmächtig zu fühlen, wenn etwas Grosses passiert? Ich bin in der glücklichen Situation, mit anpacken zu können. Das ist ein grosses Privileg.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/01 des ETH-Magazins Globe erschienen.