Interviews: hohe Verbreitung hat Folgen

Visualisierung der Erfahrung mit Interviews im sozialen Raum - auf der Basis von
Visualisierung der Erfahrung mit Interviews im sozialen Raum - auf der Basis von Befragungsdaten und deren Analyse mittels multipler Korrespondenzanalyse. (Grafik/Daten: Guy Schwegler, visuelle Aufbereitung: Daniel Jurt)
Interviews sind aus der qualitativen Sozialforschung kaum wegzudenken und haben sich zugleich zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit entwickelt. Die Verbreitung der Methode sollte bei ihrer Anwendung in der Forschung stärker berücksichtigt werden.

Die Methoden der Sozialwissenschaften haben sich im letzten Jahrhundert stark erweitert. Dennoch gibt es einige grundlegende Vorgehensweisen, die weiterhin unverzichtbar sind, trotz aller technischen Entwicklungen und Neuerungen. Beispielsweise ist die Durchführung von Umfragen weiterhin der zentrale Bestandteil der quantitativen Sozialforschung. Auch in der qualitativen Forschung findet sich eine solch dominante Form der Datenerhebung: die Gesprächsführung in Form des Interviews.

Die entsprechende Frage-und-Antwort-Situation ist nicht nur ein Werkzeug der Sozialwissenschaften, sondern auch in Bereichen wie dem Personalmanagement, der Strafverfolgung oder dem Journalismus weit verbreitet. Diese Tatsache wird mit der Vorstellung der Interviewgesellschaft hervorgehoben. Dabei dient die Methode schon längst nicht mehr nur der Informationssammlung, sondern gerade auch zur Konstruktion des eigenen Selbst. Wir sind es gewohnt, Interviews in medialen Kontexten zu sehen, wo sich Promis und alltägliche Menschen selbst präsentieren.

Diagnose einer «Interviewgesellschaft»

Die Vorstellung einer Interviewgesellschaft kann methodologisch «problematisiert» werden, das heisst: Sie wird zu etwas gemacht, das wir beachten und um das wir uns kümmern müssen. Entsprechend geht es darum, nach den Konsequenzen zu fragen, die sich aufgrund der Verbreitung des Interviews für das Interview selbst ergeben. Diese Problematisierung ergänzt dann eine Vielzahl weiterer methodologischer Diskussionen dieser zentralen Form der Datenerhebung in der qualitativen Sozialforschung.

Dabei lässt sich die Verbreitung als «Investition» in die Form des Interviews verstehen. Von Aufzeichnungstechnologien über Fachliteratur zu Darstellungsweisen in Serien und Filmen bis hin zu sogenannten Medientrainings - all das repräsentiert solche Investitionen. Als deren Folge etablieren sich mehr und mehr konventionelle Verhaltensweisen rund um das Interview, die Konsequenzen für die Verwendung der Methode haben.

Ein Blick in die quantitative Sozialforschung verdeutlicht, dass solche Überlegungen lohnend sind. So hat die Allgegenwart von Umfragen zu Phänomenen wie sinkenden Rücklaufquoten geführt. Quantitativ Forschende müssen sich daher mit Problemen beschäftigen, die sich aus der Verbreitung ihrer zentralen Methode zur Datenerhebung ergeben. Diese Situation lässt ist zwar nicht direkt auf die qualitative Sozialforschung übertragbar. Aber der Vergleich gibt bereits erste Hinweise auf die Relevanz der Problematisierung.

Jede/r Zweite bereits interviewt

Um diese Relevanz weiter zu verdeutlichen, wurde eine Befragung der Schweizer Bevölkerung durchgeführt. Eine Frage erfasst dabei, ob jemand bereits einmal interviewt wurde und wenn ja, in welchem Kontext dies stattfand. Gemäss den Daten haben rund 50 Prozent bereits einmal an einem Interview teilgenommen. Die häufigste Art ist dabei das Marktforschungsinterview (20 Prozent), während Erfahrungen mit anderen Interviewkontexten wie etwa Wissenschaft oder Journalismus jeweils bei rund 10 Prozent liegen. Etwas mehr als 20 Prozent wurden in verschiedenen Kontexten interviewt.

Zusätzlich zur Interviewerfahrung lagen auch Informationen zu Alter, Einkommen und mehr vor. Mit den soziodemografischen Angaben konnte analysiert werden, wie sich die Verteilung der Interviewerfahrung im sozialen Raum zeigt. Ein solcher Raum kann mittels einer sogenannten multiplen Korrespondenzanalyse konstruiert werden, die die verschiedenen Variablen auf zwei Dimensionen reduziert (siehe Grafik). Horizontal werden Rentnerinnen und Rentner von arbeitstätigen Personen unterschieden, während vertikal eine Differenzierung nach Kapitalvolumen erfolgt, also nach Menge an Einkommen, Bildung und Weiterem. Je stärker eine Ausprägung ausserhalb des Achsenkreuzes liegt, desto mehr wird sie durch die Dimensionen bestimmt. Rund um das Achsenkreuz befinden sich die durchschnittlichen Ausprägungen des Raums.

Betrachtet man nun die Verteilung der Interviewerfahrung, zeigen sich folgende Ergebnisse: «Erfahrung mit Interviews» oder «keine Erfahrung mit Interviews» entspricht beides dem Durchschnitt des sozialen Raums (was auch dadurch deutlich wird, dass diese Ausprägungen näher am Achsenkreuz liegen als diejenigen zum Geschlecht). Weiter wissen Rentnerinnen und Rentner oftmals nicht, ob sie bereits interviewt wurden, während dies bei arbeitstätigen Personen klar ist. Und die Erfahrung mit verschiedenen Interviewkontexten steigt mit zunehmendem Kapitalvolumen.

Es lohnt sich, weiter an einer entsprechenden Problematisierung dieser Datenerhebungsform zu arbeiten


Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Interviews in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen. Entsprechend lohnt es sich, weiter an einer entsprechenden Problematisierung dieser Datenerhebungsform zu arbeiten. Zwar bietet die Studie selbst noch keine Einsichten dazu, was wirklich die Konsequenzen sein könnten, die es bei der Interviewführung zu beachten gilt. Aber die Ergebnisse ermöglichen es, weitere Forschungen anzuleiten.

So wird zum Beispiel ein Vergleich nahegelegt: Die stärksten Effekte können bei Personen mit höherem sozialem Status erwartet werden, während die schwächsten bei Rentnerinnen und Rentnern zu erwarten sind. Mittlere Effekte wiederum wären erwartbar bei Personen in unterschiedlichen Altersgruppen und mit tiefen bis mittleren Kapitalvolumen. Dies ist nur eine der Möglichkeiten, wie sich weitere Studien methodologisch der Interviewgesellschaft widmen könnten. Dass sich solche Forschung aber lohnt, konnte hiermit aufgezeigt werden.

Ein Fachartikel von Guy Schwegler zu den Konsequenzen der Interviewgesellschaft befindet sich aktuell im Peer-Review-Prozess. Die damit zusammenhängenden Befragungsdaten sind auf der Plattform SWISSUbase abrufbar.

Guy Schwegler

Oberassistent am Lehrstuhl von Rainer Diaz-Bone, Professor für Soziologie mit Schwerpunkt qualitative und quantitative Methoden; Dr.
www.unilu.ch/guy-schwegler