Jüdische Gemeinden im Umbruch

Die jüdische Gesellschaft in der Schweiz befindet sich im Wandel. Viele Juden können sich nicht mehr mit den religiösen Bestimmungen der traditionellen orthodoxen Gemeinden identifizieren und treten liberalen Gemeinschaften bei. Das grösste Konfliktpotenzial birgt der Umgang mit Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden, wie eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58) zeigt.

In der Schweiz leben rund 18?000 Jüdinnen und Juden. Etwa drei Viertel von ihnen gehören einer der rund zwei Dutzend jüdischen Religionsgemeinden an. Diese decken ein breites Spektrum ab, von strenggläubig orthodox bis liberal. Wie ist diese jüdische Gemeindelandschaft entstanden? Und wie hat sich das religiöse Leben der Juden in den letzten fünfzig Jahren verändert? Um diese Fragen zu beantworten, haben Forschende am Institut für Jüdische Studien der Universität Basel im Rahmen des NFP 58 die jüdischen Gemeinschaften in Basel, Genf und Zürich untersucht. Hier leben rund 70 Prozent der Schweizer Juden.

Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben tiefgreifende Auswirkungen auf das religiöse Leben der Juden. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz ausschliesslich orthodoxe Gemeinden. Die jüdische Gemeinschaft war aufgrund der religiösen Traditionen, aber auch wegen der äusseren Anfeindungen geprägt durch einen starken Zusammenhalt. Ab den sechziger Jahren wuchs in einem gesellschaftlich offenen Umfeld das Bedürfnis nach persönlichen Freiheiten. Die Bedeutung der Religionsgemeinschaft im Alltag schwand. Dadurch traten - und treten - Konflikte auf zwischen den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft und den jahrhundertealten religiösen Normen.

Zunahme der Mischehen
Der Knackpunkt ist die so genannte Mischehe, wie die Forschenden herausgefunden haben: Immer mehr Juden - Männer und Frauen - heiraten einen nichtjüdischen Partner. Heute beträgt der Anteil der Mischehen über fünfzig Prozent. Diese Annäherung an die nicht-jüdische Gesellschaft ist einerseits ein Zeichen für eine umfassende Integration. Andererseits gefährdet die Entwicklung aber den Fortbestand der traditionellen jüdischen Gemeinschaft, da religionsgesetzlich nur Kinder einer jüdischen Mutter als Juden gelten. Orthodoxe Gemeinden und deren Rabbinate reagierten auf Mischehen mit der Ausgrenzung der nichtjüdischen Angehörigen. «Um eine abschreckende Wirkung zu erzielen, nahmen die meisten orthodoxen Rabbiner nichtjüdische Ehefrauen und Kinder nur sehr restriktiv ins Judentum auf», erklärt der Historiker Daniel Gerson. Das führte oft zum Bruch mit der Gemeinschaft. Die Folge war ein Aderlass in den bestehenden Gemeinden und eine Pluralisierung: Ab den siebziger Jahren entstanden neue liberale Gemeinden und Gemeinschaften, die sich stärker um die religiöse Integration der nicht-jüdischen Angehörigen bemühten.

Verstärkt wurde die Bildung neuer Gemeinschaften durch weitere Veränderungen: Das von den Religionsgemeinden geforderte finanzielle und zeitliche Engagement lehnten viele Juden als zu belastend ab. Viele zweifelten zudem die Autorität des Rabbinats als willkürlich und unzeitgemäss an. Die Reformbewegung hob die räumliche Trennung von Mann und Frau im Gottesdienst auf. Heute gibt es im religiösen Leben bei den beiden grossen liberalen Gemeinden in Genf und Zürich keine Geschlechtertrennung mehr. Auch Frauen werden zum Lesen der Thora aufgerufen.

Orthodoxe gehen eigene Wege
Ein Teil der orthodoxen Gemeinden sieht in der offenen Gesellschaft eine Gefahr und reagiert mit Distanzierung. In den letzten Jahren entstanden privat finanzierte jüdische Schulen, in denen der Religionsunterricht einen grossen Stellenwert einnimmt. Die Konzentration auf die religiöse Bildung schaffe Probleme, sagt Gerson. Den jungen Erwachsenen gelinge oft der Einstieg ins Berufsleben nicht. Gerade ultraorthodoxe Familien seien deshalb nicht selten von privater oder staatlicher Unterstützung abhängig.

Religiös konservative Gemeinden prägen das Judentum laut der Untersuchung zwar auch heute noch. Doch die Reformgemeinden werden wichtiger. Da auch sie von ihren Mitgliedern eine grosse finanzielle Beteiligung verlangen, werden sich in Zukunft vermehrt auch informelle, kleine Gemeinschaften bilden, in denen Familien ihren Kindern jüdische Religionspraxis ohne Rücksicht auf die Autorität eines Rabbiners vermitteln. Diesen Gruppen jedoch fehlen häufig dauerhafte Institutionen wie ein Gemeindehaus oder ein Friedhof.