Bestehende Gebäude - eine Goldgrube für die Erfindung des Wohnraums von morgen

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Bestehende Gebäude - eine Goldgrube für die Erfindung des Wohnraums von morgen
Die Bautätigkeit bremsen, den aktuellen Wohnungsbestand schnell sanieren und die Nutzung neu überdenken. Das schlägt Philippe Thalmann, Professor für Stadt- und Umweltökonomie an der EPFL, vor, um gleichzeitig die Klimaziele zu erreichen und eine ständig wachsende Bevölkerung unterzubringen.

Wie können wir in Zukunft allen Menschen ein angemessenes Dach über dem Kopf bieten? Demografische Veränderungen, wirtschaftliche Zwänge, Klima- und Umweltprobleme machen diese Frage entscheidender denn je. Wie in vielen anderen Branchen müssen sich auch das Bauwesen und die Art und Weise, wie wir wohnen, grundlegend ändern, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden.

Den Projektionen zufolge wird die Schweizer Bevölkerung weiter wachsen und bis 2050 10 Millionen Menschen erreichen, verglichen mit den heutigen 9 Millionen. Sie wird auch älter werden, da die Zahl der 80-Jährigen und Älteren doppelt so hoch sein wird wie heute. Die Siedlungen der Zukunft müssen diesen Entwicklungen Rechnung tragen, ohne Kompromisse bei den Zielen der Dekarbonisierung einzugehen - keine Nettoemissionen von Treibhausgasen bis 2050 -, die vom Bund festgelegt und von der Bevölkerung im Juni 2023 angenommen wurden.

"Ziele, die nur erreicht werden können, wenn der Bau neuer Gebäude drastisch gebremst wird und die Arbeitskräfte des Sektors auf den Umbau und die Sanierung bestehender Gebäude umgelenkt werden", meint Philippe Thalmann, Professor am Laboratoire d’économie urbaine et de l’environnement (LEURE) der EPFL (siehe Kasten). Diese Umstellung entspricht den Ökologischen Notwendigkeiten - weniger Flächeninanspruchnahme, Reduzierung der CO2, etc. Aber wie sollen die immer zahlreicheren Einwohner ohne neue Bauten untergebracht werden, wenn in der Region ein anhaltender Mangel an Wohnraum herrscht?

Philippe Thalmann schlägt daraufhin einen Paradigmenwechsel vor: weg vom Prinzip, immer mehr zu bauen, hin zu einer vernünftigen Nutzung der verfügbaren Quadratmeter. In Wirklichkeit, so Thalmann, sei der vorhandene Wohnungsbestand bereits mehr als ausreichend.

Quadratmeter im Überfluss

In der Schweiz ist die Zahl der m2 an Wohnraum weitaus stärker gestiegen als die Bevölkerungszahl, so dass die Zahl der m2 pro Person von 34 m2 im Jahr 1980 auf 46 m2 im Jahr 2020 gestiegen ist. Auch bei der Anzahl der Räume ist das Land gut ausgestattet - rund 18 Millionen bei 9 Millionen Einwohnern, das sind zwei pro Person. Und darunter sind viele "kalte Betten", ein Problem, das nicht nur Berghütten betrifft. Auch in Hauptwohnsitzen gibt es viele "kalte Betten": ungenutzte Gästezimmer, Zimmer, aus denen die erwachsenen Kinder ausgezogen sind, oder Halbtagsstellen bei getrennten Paaren mit gemeinsamem Sorgerecht.

Philippe Thalmann analysiert: "So viel Platz zu haben, ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Unter der Voraussetzung, dass wir diesen Park neu organisieren und auch nur zu den bereits sehr komfortablen Standards der 1990er Jahre zurückkehren, können wir alle zukünftigen Bewohner sehr gut unterbringen."

Die Knappheit sei eher das Ergebnis eines ungleichen Umgangs mit der Knappheit als eines wirklichen Mangels an Wohnraum. "De facto gibt es derzeit zwei Bevölkerungsgruppen: eine, die schon lange hier lebt und günstig in eher alten und großen Wohnungen wohnt, und eine andere, die umzieht oder neu in die Schweiz kommt und verzweifelt ist, weil sie nur kleine, überteuerte Wohnungen findet. Es geht also darum, diesen Bestand gerechter zu nutzen."

Die den Vereinten Nationen angegliederte International Resource Expert Group (IRG) weist auch auf die Verringerung der Wohnfläche pro Person als einen der wichtigsten Hebel für nachhaltigeres Wohnen hin. Einem Bericht aus dem Jahr 2020 zufolge bietet eine intensivere Nutzung von Wohnraum ein erhebliches Potenzial zur Senkung der Treibhausgasemissionen - 70% Reduktion bis 2050 in den G7-Staaten - weit vor verbessertem Recycling (14-18%), materialsparenderem Gebäudedesign (8-10%) und der Verwendung von Holz (1-8%).

Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn der Neubau von Gebäuden drastisch gebremst wird und die Arbeitskräfte der Branche in den Umbau und die Sanierung bestehender Gebäude umgelenkt werden.

Philippe Thalmann, Professor am Laboratoire d’économie urbaine et de l’environnement (LEURE) der EPFL

Das Ideal ändern

Dieser innovative Ansatz bedeutet, dass gesellschaftliche Ideale wie das Streben nach der Einfamilienvilla oder dem Zweitwohnsitz hinterfragt werden müssen, aber auch im weiteren Sinne das Konzept des Mindestraums, den jede und jeder für ein gutes Leben im Alltag benötigt.

Die Verringerung der Größe unserer Privaträume kann als Komfortverlust empfunden werden. Deshalb betont der Experte auch die Vorteile: "In den Städten wird die Hälfte der Wohnungen von alleinstehenden Personen bewohnt. Gleichzeitig ist die Einsamkeit weit verbreitet. Das zeigt also, dass ein Mehr an Quadratmetern nicht glücklich macht. Stellen wir uns vor, man würde diesen Menschen in derselben Gegend Räume anbieten, in denen sie über ein Zimmer, eine Küchenzeile, ein kleines eigenes Bad und als Bonus über gemeinsam genutzte Bereiche wie ein großes Wohnzimmer, einen Garten und andere Annehmlichkeiten verfügen. Sie würden sicherlich davon profitieren, nicht zuletzt von der Möglichkeit, mehr soziale Kontakte zu knüpfen."


In diesem Sinne, so fügt er hinzu, müssen neue Zusammenschlüsse erfunden werden. Wohngemeinschaften sind auf dem Vormarsch, und zwar nicht mehr nur bei jungen Leuten. Jetzt interessieren sich auch Senioren dafür, was vielleicht ein Teil der Antwort auf die Überalterung der Bevölkerung ist. Genossenschaften experimentieren mit neuen Wohnformen wie Clusterwohnungen oder verschiedenen Arten von Ökoquartieren. "Es gibt ein Zusammenleben, das neu erlernt werden muss", schließt der Professor.

Sanieren statt weiterbauen

Um die Dekarbonisierungsziele des Bundes zu erfüllen, muss der Schwerpunkt dringend auf die Renovierung von Gebäuden gelegt werden.


"Die Rechnung ist einfach: Um die Klimaziele unseres Landes zu erreichen, müssen innerhalb von 25 Jahren rund 75% des heutigen Gebäudebestands saniert werden, d.h. 3% pro Jahr. Bis heute ist weniger als 1% des Gebäudebestands saniert." Philippe Thalmann, Professor am Laboratoire d’économie urbaine et de l’environnement (LEURE) der EPFL, führte 2022 eine Studie zu diesem Thema im Rahmen eines Wie kann der Prozess beschleunigt werden’ Vervielfachung der Arbeitskräfte’ Schon heute erweist sich die Rekrutierung von qualifizierten Personen als schwierig, antwortet der Forscher. "Nur ein Viertel der Arbeiter in diesem Sektor arbeitet derzeit in der Sanierung, während drei Viertel in der Errichtung von Neubauten tätig sind. Wenn man diese Aufgabe ernsthaft angehen will, muss sich dieses Verhältnis zumindest umkehren."

Die Umsetzung solcher Veränderungen stößt jedoch noch auf viele Hindernisse, vor allem wirtschaftlicher Art. Die Bauindustrie, die um ihre Interessen fürchtet, sieht die Idee, die Errichtung neuer Gebäude einzuschränken, nicht gerne", erklärt der Experte. Und dann ist da noch die Frage des Bodenwerts: Versuche,ÖLand aus der Bauzone zu nehmen, um Landwirtschaftsland zu erhalten oder es der Biodiversität zurückzugeben, führen schnell zu Protesten. Denn ohne das Immobilienpotenzial ist das Grundstück auf dem Markt viel weniger wert. Außerdem sind bei Hypotheken auch die Banken involviert. Es ist also extrem kompliziert".


Auf der Seite der Eigentümer ist die Situation ungleich. Diejenigen, die über die nötigen Mittel verfügen, wie z. B. institutionelle Investoren - Pensionskassen,Öffentliche Verwaltungen, Genossenschaften etc. - haben ihren Park in der Regel bereits auf den neuesten Stand gebracht", erklärt der Forscher. Die Herausforderung besteht nun darin, die anderen zu überzeugen.
Nicht alle, die Gebäude besitzen, haben die Ressourcen oder das Interesse, die notwendigen Sanierungen durchzuführen. In der Schweiz werden 40% aller Wohnungen von ebenso vielen Eigentümern bewohnt. Wenn es sich um Stockwerkeigentum (Stockwerkeigentum) handelt, ist es nicht selbstverständlich, eine Renovierung in Betracht zu ziehen. Es ist nicht einfach, sich zu einigen, und es kommt selten vor, dass alle Parteien zu einem bestimmten Zeitpunkt über die nötigen Mittel verfügen oder Zugang zu Krediten haben. Villen werden oft vor langer Zeit erworben und befinden sich in den Händen älterer Menschen, die nicht immer über genügend Ersparnisse für größere Renovierungsarbeiten verfügen.

Was die anderen 60% der Wohnungen betrifft, so handelt es sich dabei um Mietwohnungen. Die Hälfte davon wird von Privatpersonen vermietet, von denen viele auf diesen Nebenverdienst für ihren Ruhestand angewiesen sind und daher in erster Linie Geld einnehmen wollen, anstatt in die Sanierung zu investieren. Und die Öffentlichen Fördermittel, die zu ihrer Unterstützung bereitgestellt werden, reichen nicht immer aus, um sie zu motivieren.

Was also tun’ Gebäude mit zu hohem Schadstoffausstoß verbieten’ Politisch sehr kompliziert. Neue Steuern einführen, z. B. auf Heizöl’ Unpopulär, und das führt nicht unbedingt dazu, dass saniert wird. Subventionierung der Arbeiten’ "Diese Möglichkeit besteht, aber sie zwingt die Eigentümer nicht, Baustellen zu eröffnen, die nach wie vor kompliziert sind und die Beziehungen zu den Mietern potenziell beeinträchtigen können. Und warum sollte der Steuerzahler diese Kosten übernehmen? Es gibt keine ideale Lösung. Wahrscheinlich braucht es von allem ein bisschen: finanzielle Unterstützung, Steuern und ein bisschen Zwang. Und auch die Eigentümer müssen etwas dazu beitragen."

*Studie "Bessere Nutzung des Wohnungsbestands zur Verringerung seiner Umweltauswirkungen", durchgeführt vom LEURE-Labor im Rahmen des NFP 73 zur nachhaltigen Wirtschaft, Juni 2022.