Daniel Thürer, Professor für Völkerrecht, hat die Weltreligionen daraufhin untersucht, wie sie zum Völkerrecht stehen. Die meisten Religionen enthalten Grundprinzipien, die auch im humanitären Recht anzutreffen sind. Konflikte entstehen, wenn religiöse Texte fundamentalistisch ausgelegt werden.
Adrian Ritter
Die Denker der Aufklärung wie Rousseau und Lessing hatten gehofft, das Zeitalter der Religionen sei vorbei und es beginne eine Zukunft der Vernunft. Es sollte ein Irrtum sein. «Religionen haben sich als eine Konstante der Menschheitsgeschichte erwiesen», so Daniel Thürer, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich.
Eigene Gesetze: Das humanitäre Völkerrecht versucht, Kriege «humaner» zu machen. Religionen können eine wichtige Wertgrundlage dafür sein.
Aber was bedeutet das für die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht – eingeführt, um Menschen vor Übergriffen durch ihre eigenen Staaten zu schützen und Kriege «humaner» zu machen? Stützen Religionen solche Rechtssysteme oder stehen sie eher im Widerspruch dazu?
Westliche Idee sucht Verankerung
Daniel Thürer ist im Forschungsprojekt «International Humanitarian Law: Theory and Practice» (siehe Kasten) zwei Seiten der Weltreligionen Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus begegnet. Einerseits sei in deren Namen im Laufe der Geschichte viel Grausamkeit geschehen. «Je höher der Anspruch einer Religion nach Wahrheit und Erlösung, desto grausamer waren oft die Methoden, um dieses Ziel zu erreichen», so Thürer mit Blick auf Inquisition, Folter und Genozide.
Andererseits bilden Religionen eine wichtige Wertgrundlage für das heutige humanitäre Recht. «Das Rechtssytem braucht solche hinter ihm stehenden Kräfte», so Thürer. Beim humanitären Völkerrecht und den Menschenrechten treffe dies umso mehr zu, als dass diese oft als «westliches Produkt» kritisiert würden und um Glaubwürdigkeit rängen. Entsprechend wichtig wäre es, in den verschiedenen Religionen eine gemeinsame Basis für das humanitäre Recht zu finden.
Thürer ist dies in seiner Arbeit gelungen. Die meisten Religionen enthalten Grundprinzipien, die auch im humanitären Recht anzutreffen sind, so sein Befund. In Bezug auf Kriege etwa sprechen alle Religionen davon, dass Wehrlose und Friedensbereite geschützt werden sollen und die Lebensgrundlage des Feindes nicht zerstört werden dürfe. Der Koran beispielsweise nennt explizit die Ölbäume auf Feindesland, die geschützt werden müssen.
Vorbildlicher Hinduismus
Dem heutigen humanitären Völkerrecht am nächsten ist gemäss Thürer der Hinduismus. Die indische Kriegerkaste kannte schon früh detaillierte Vorschriften, die sich weitgehend mit den heutigen Genfer Konventionen decken. Der Hinduismus zählte auf, welche Waffen benutzt werden dürfen und verlangte etwa, dass Zivilisten vor Angriffen zu schützen und die Wunden der Kriegsgefangenen zu pflegen seien.
Der Buddhismus zeichne sich in besonderem Masse durch Pazifismus aus. Allerdings zeige die Geschichte von China und Japan, dass auch diese Religion gebraucht wurde, um Krieg und Gewalt zu unterstützen. «Sobald eine Religion eng mit dem Staat verbunden ist, sind ihre Ursprünge gefährdet. Der Buddhismus ist dabei keine Ausnahme», sagt Daniel Thürer.
Diese Erfahrung musste auch das Christentum machen, als es vom Römischen Reich zur offiziellen Religion erkoren wurde. Hatte Jesus von Nazareth noch Gewaltlosigkeit gelehrt, so entwickelte der heilige Augustin um etwa 400 n. Chr. für das Römische Reich die Theorie des «gerechten Krieges».
Diese Idee sollte es erlauben, Gewalt anzuwenden, um das Christentum zu verbreiten. Die spätere katholische Kirche anerkannte nur noch Verteidigungskriege als legitim und machte sich, wie andere christliche Kirchen und Glaubensströmungen, in der Friedensförderung stark. «Das war der Versuch, die ursprüngliche Lehre von Jesus neu zu beleben», so Thürer.
Interpretation entscheidet
Zwar sind viele der im Namen der Religion begangenen Grausamkeiten Geschichte. Aber auch heute können religiöse Überzeugungen mit dem humanitären Völkerrecht und den Menschenrechten kollidieren. Auf islamistische Selbstmordattentäter trifft dies ebenso zu wie auf gewisse christlich-fundamentalistische Gruppierungen in den USA, die Folter im Gefangenenlager von Guantanamo gutheissen.
Wenn Religionen in der heutigen Zeit wieder an Bedeutung gewinnen, so steigt auch die Gefahr, dass es zu Fehlentwicklungen kommt, ist Thürer überzeugt. Dies geschieht vor allem dann, wenn religiöse Texte fundamentalistisch ausgelegt werden, was dem Geist der Menschenrechte widerspreche.
«Die Interpretationsmethode entscheidet darüber, inwiefern sich eine heilige Schrift mit den Menschenrechten verträgt», so Thürer. Nur die historisch-kritische Auslegung werde dem Anspruch gerecht, eine Religion der jeweiligen Zeit angepasst zu leben. Dabei lasse sich aber weder im Koran eine Legitimität für Terrorismus noch in der Bibel eine solche für Folterungen finden.
Primat des Rechts
In vielerlei Hinsicht stehen Religionen für dieselben Werte und Ziele ein wie das internationale humanitäre Recht, so das Fazit von Thürer. Klar müsse aber sein: Die Rechtsgrundsätze gehen vor. Die Idee der Menschenrechte sei heute derart gut verankert und gesellschaftlich getragen, dass sich auch Religionen daran messen lassen müssen: «Nichts ist höher als das Recht.»
International Humanitarian Law
Unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds hat Daniel Thürer gemeinsam mit einem Team von Assistierenden in den letzten drei Jahren den Stand und die Entwicklung des Humanitären Völkerrechts untersucht. Daraus entstand an der Haager Akademie für Internationales Recht eine Veranstaltungsreihe, deren Vorträge demnächst auch in Buchform vorliegen («International Humanitarian Law: Theory, Practice, Contexts», The Hague Academy of International Law, 2010).
Ebenfalls neu erschienen von Daniel Thürer und Professor Thomas Buergenthal ist die Publikation «Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen» (Dike Verlag, Zürich/St. Gallen und Nomos Verlag, Baden-Baden, 2010).