Covid-19 hat die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Wir müssen eine viel breitere Perspektive einnehmen, um die komplexen Probleme der Menschheit anzugehen, schreibt Jaboury Ghazoul.
Die Art und Weise, wie wir die Welt betrachten, beeinflusst auch unseren Umgang mit den Problemen, vor die sie uns stellt. Die Biologie ist seit jeher von konkurrierenden Sichtweisen geprägt. Das wohl bedeutendste Beispiel ist die Rivalität zwischen Naturalismus und Reduktionismus.1
Die naturalistische Tradition beobachtet und vergleicht die Natur und spiegelt die Lehren von Alexander von Humboldt und Charles Darwin wider. Daraus entstanden weite Forschungsfelder wie die Biogeographie, Systematik, Ökologie, und natürlich die Evolution.
Die reduktionistische Tradition hingegen betrachtet isolierte Teile eines Ganzen und versucht, Ursachen in Wirkungsketten durch Experimente zu ermitteln. Dieser experimentelle Ansatz war enorm erfolgreich. Er entstand wohl um 1910 in Thomas Hunt Morgans berühmten «Fliegenraum» (Englisch: The Fly Room). So wurde das Labor genannt, in dem der spätere Nobelpreisträger mittels Versuchen an Fruchtfliegen die Existenz von Genen auf Chromosomen nachwies und damit die moderne Genetik begründete.
Morgan übertrug seinen experimentellen Ansatz auf die Embryologie und empfahl ihn auch für weitere biologische Fachgebiete. So durchdrang der experimentelle Reduktionismus die Biowissenschaften und trug massgebend zu unserem heutigen Verständnis von Lebensprozessen bei.
Wir leben in einer komplexen Welt
Diese Sicht auf die Natur ist dennoch begrenzt. Mitunter die wichtigsten wissenschaftlichen Fortschritte entstanden, indem man einzelne Fachgebiete miteinander verband. Zum Beispiel ging aus der Paarung von Embryologie und Genetik in den 1960er Jahren das fruchtbare Feld der Evolutionären Entwicklungsbiologie hervor.2 «Evo-Devo» erlaubte völlig neue Einsichten, die sich auch auf Disziplinen wie Paläontologie, Systematik und Biochemie stützen.
Dennoch ist der reduktionistische Ansatz in der Wissenschaft nach wie vor gut etabliert. Das zeigt sich in der beständigen Organisationsstruktur akademischer Abteilungen und Institute. Auch unsere Ausbildung ist immer noch durch disziplinäres Denken geprägt - und oft verbunden mit einem verengten Blick auf die Welt, in der wir leben.
Covid-19 wirft nun ein grelles Licht auf unseren stark vernetzten Lebensraum. Das Virus ist wahrscheinlich eine Folge des illegalen Handels mit Wildtieren. Dieser rührt wiederum von ungleichen Einkommen sowie Chancen her, ferner von alten Bräuchen und ineffizienter Justiz. Urbane Lebensformen und eine globale Wirtschaft verbreiten das Virus über Verkehrsnetze, die alle Länder miteinander verbinden.
Verordnete Lockdowns haben Implikationen, die weit über die Epidemiologie hinausgehen. Sie wirken sich direkt auf Lieferketten, Arbeitsplätze und nicht zuletzt auf die Gesundheit aus. Die Rezession wird die Armut weiter verschärfen, was wiederum soziale Konflikte anheizen kann. Covid-19 zeigt uns eindrücklich auf, wie sich Störungen im System kaskadenartig ausbreiten. Die Konsequenzen sind kaum absehbar.
Zu stark auf Fachgebiete fokussiert
Es gibt diese «tückischen Probleme», bei denen es aufgrund vielfältiger Wechselwirkungen nur schon schwierig ist, sich auf ihr Wesen zu einigen. Covid-19 und unsere kollektiven Antworten darauf sind ein solch tückisches Problem. Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung zählen ebenfalls dazu.
Sie erfordern Herangehensweisen, die disziplinäre Grenzen überwinden. Denn: Betrachtet man nur losgelöste Komponenten eines Systems, verhalten sich die Einzelteile anders als im Kontext des Ganzen. Ein reduktionistischer Ansatz, der Teilaspekte für Experimente isoliert, kann daher nur ein selektives Verständnis liefern.
Die Lehre, die ich daraus ziehe, lautet: Wenn wir solche Herausforderungen angemessen adressieren wollen, müssen wir den Fokus öffnen und einen umfassenden Systemansatz verfolgen. Systemdenken wird nicht unmittelbar Antworten liefern. Richten sich Gesellschaft und Politik entsprechend aus, werden sie agiler und anpassungsfähig.
Trotz oft bekundetem Interesse: Behörden, Bildungsstätten und Zivilgesellschaft haben diese souveräne Sichtweise noch nicht verinnerlicht. Auch die akademische Welt, eigentlich zur Vorreiterin prädestiniert, ist weitgehend in ihren fachlichen Wurzeln verankert. Transdisziplinäre Zentren werden zwar rhetorisch gefeiert, bleiben aber im Vergleich zu den Fachbereichen meist marginal, wie Ressourcenzuteilung und Reputation belegen. Covid-19 schlägt vor, dass wir dies ändern sollten.
Ein inspirierender Blick zurück
Joseph Woodger, früher Verfechter des integrierten Denkens, begann seine Karriere wie Thomas Hunt Morgan als experimenteller Embryologe, interessierte sich aber bald für die konzeptuellen Grundlagen der Biologie. Diese sah er als eine fragmentierte Wissenschaft ohne einheitliche Prinzipien.3 Woodger plädierte für einen integrierten Systemansatz, bei dem die Eigenschaften der Teile eines Organismus von ihren Beziehungen innerhalb des Ganzen abhängen. Die Geschichte anerkennt Woodger heute als einen der führenden theoretischen Biologen des 20. Jahrhunderts.
Es ist Zeit, aus Morgans rigidem Fliegenraum auszubrechen und Woodgers Weitsicht über die Biologie hinaus auf die Funktionsweise unserer sozio-ökologischen Systeme anzuwenden.
1 Garland Allens Biographie von Thomas Hunt Morgan: Allen, Garland E. 1978. Thomas Hunt Morgan. The Man and His Science. Princeton: Princeton University Press.
2 Carroll, Sean B. (2005) Endless Forms Most Beautiful: The New Science of Evo Devo and the Making of the Animal Kingdom. Norton Press.
3 Woodger, Joseph H. (1929) Biological Principles: a Critical Study. London: Kegan Paul and Co.