Religionen: Für den Einzelnen nicht mehr wichtig, aber in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert

Religionen: Für den Einzelnen nicht mehr wichtig, aber in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert



In der Schweiz zeichnet sich der Bereich des Religiösen durch eine wachsende Kluft aus: Während die Religion als Thema der Politik und Medien grosse Bedeutung hat, wird sie gleichzeitig aus staatlichen Institutionen zurückgedrängt und für die meisten Menschen immer unwichtiger. Die Vielfalt der religiösen Landschaft indes nimmt zu. Zu diesen Schlüssen kommt das Nationale Forschungsprogramm "Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft" (NFP 58). Es empfiehlt den Behörden, sich mehr um die Gleichstellung aller Religionen zu bemühen.
Das NFP 58 hat in den vergangenen fünf Jahren die Religionslandschaft der Schweiz in 28 Forschungsprojekten unter die Lupe genommen. Nun legt es seine wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen vor. Der zentrale Befund: Religiöse Themen gewinnen in der Öffentlichkeit in überzeichneter Form an Bedeutung, während die Religion im Leben der Menschen unwichtiger wird.

Religion als Abgrenzungsmittel
In der Öffentlichkeit ist Religion vor dem Hintergrund der Weltpolitik ein kontroverses Thema. Religion wird in den Medien, aber auch auf dem Schulhof und in der Politik oft zur Abgrenzung der "einheimischen" von "fremden" Gruppen benutzt und in Zusammenhang mit gewalttätigem Handeln thematisiert. Dabei haben die betreffenden Charakterisierungen - beispielsweise "Unterdrückung der Frau im Islam" - häufig wenig mit der jeweiligen Religion zu tun, sondern mit einer stereotypen Wahrnehmung oder mit der Herkunft und Situation der Migranten. Hingegen schreibt die Mehrheitsgesellschaft dem Christentum positive Eigenschaften zu, etwa "Gleichberechtigung von Mann und Frau", obwohl auch in dieser Religion die Geschlechter nicht überall gleichgestellt sind.

Die Mehrheit ist gegenüber dem Religiösen distanziert
Der oder die Einzelne greift immer seltener auf die traditionelle Religion zurück - Stichwort Säkularisierung. Die grossen christlichen Kirchen verlieren kontinuierlich Mitglieder, und wer in der Kirche verbleibt, nimmt ihre Dienstleistungen immer seltener in Anspruch. Vor allem Jugendliche wollen in religiösen Fragen "selbst entscheiden". Zunehmend verbreitet ist eine distanzierte Haltung gegenüber dem Religiösen. Zudem sind die Menschen der Ansicht, dass Religion in die Privatsphäre gehört und weder "extrem" gelebt noch missionarisch verbreitet werden soll. Die Säkularisierung lässt sich auch im staatlichen Bereich beobachten: Vormals religiös geprägte Institutionen - von den Gefängnissen über die Heime bis zur Lehrerausbildung - sind heute säkular organisiert.

Trotz der Säkularisierung haben manche Religionsgemeinschaften Zulauf. Häufig haben diese Gemeinschaften zwar wenige, aber hoch engagierte Mitglieder, die eine konservative Lebensführung propagieren. Viele Religionsgemeinschaften befinden sich im Umbruch. In Christentum, Juden-tum und Islam stehen sich liberale und konservative Gruppen gegenüber. Während Erstere die säkularisierte Moderne befürworten, lehnen Letztere diese ab.

Überschätztes Konfliktpotenzial
Das Konfliktpotenzial der Religionen wird überschätzt. Angehörige und Funktionäre von Migrantenreligionen haben gewöhnlich ein grosses Vertrauen in die Schweizer Behörden. Weil die religiöse Landschaft immer heterogener werde, zeichne sich eine Verschärfung des Verhältnisses zwi-schen stark Religiösen und Religionsdistanzierten ab, sagt Christoph Bochinger, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 58. Daher gelte es, den respektvollen Umgang zwischen den verschiedenen Gruppen zu fördern.

Die verschiedenen Religionsgemeinschaften gleichstellen
Die Leitungsgruppe des NFP 58 empfiehlt den Behörden auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene, mehr für die Gleichstellung der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu tun. Muslimische, christlich-orthodoxe, tamilisch-hinduistische und vietnamesisch-buddhistische Gemeinschaften setzen sich z.B. mit Sprachkursen und Jugendarbeit für die Integration ihrer Mitglieder ein. Diese Leistungen sollten unterstützt werden - wie das soziale Engagement der Landeskirchen. Im Fall des Religionsunterrichts ist die Gleichstellung bereits im Gang. Einige Kantone führen neben dem christlichen einen islamischen Unterricht ein, andere ersetzen andere den konfessionellem Unterricht durch einen staatlich verantworteten für alle Schulkinder.

Schliesslich empfiehlt die Leitungsgruppe den Medien und den Behörden, bei politischen Aushandlungen neben den etablierten Religionsgemeinschaften auch die neuen Gemeinschaften zu berücksichtigen. Gleiches solle für säkulare Gruppen wie die Freidenker gelten. Auch überschritten die von der Politik ins Spiel gebrachten Themen wie etwa Minarette oder Kopftuch den kantonalen Rahmen. Zwar seien die Kantone für die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zuständig, aber angesichts der Schweiz weiten Veränderungen der religiösen Landschaft sei eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Bund, den Kantonen untereinander sowie den politischen Gemeinden nötig.

Publikation
Christoph Bochinger (Hg.): Religionen, Staat und Gesellschaft. Die Schweiz zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt. NZZ Libro, Zürich 2012. 284 S.

Nationales Forschungsprogramm "Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft" (NFP 58)
Das NFP 58 hat die Veränderungen untersucht, welche die Schweiz im Bereich der Religionen seit einigen Jahren verstärkt treffen, und für die Lösung neuer Problemlagen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Empfehlungen formuliert. Das vom Bundesrat in Auftrag gegebene NFP 58 hat seine Arbeit 2007 aufgenommen und über einen Finanzrahmen von 10 Mio. Franken verfügt. Rund 135 Forschende arbeiteten in 28 Projekten. Jetzt legt das NFP 58 seine Synthese vor.