Unerwünschte Wirkungen mit Dominoeffekt

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Fischzellkulturen - hier im Mikroskop sichtbar - sind ein wichtiger Schlüssel zu
Fischzellkulturen - hier im Mikroskop sichtbar - sind ein wichtiger Schlüssel zur Entwicklung tierversuchsfreier Umwelttoxizitätstests.

Forschende der Eawag, des ehemaligen Eawag-Spin-offs aQuaTox-Solutions und des Nationalen Institutes für Biologie in Slowenien gewinnen fast 800’000 Franken in der Phase 2 eines Wettbewerbs des britischen Zentrums zum Ersatz von Tierversuchen.

Unzählige chemische Substanzen, die im täglichen Gebrauch sind, wie Pestizide, pharmazeutische Substanzen und Industriechemikalien, gelangen früher oder später auch in Flüsse, Seen und das Grundwasser. Damit sie keinen Schaden anrichten, müssen sie in der Regel vor der Zulassung einer Umweltrisikobewertung unterzogen werden. Bei diesem Verfahren wird getestet, wie toxisch eine Chemikalie auf verschiedene Organismen der natürlichen Umwelt - unter anderem Fische - wirkt. Weltweit gibt es zahlreiche Bestrebungen, solche ökotoxikologischen Tests durchführen zu können, ohne auf lebende Tiere zurückgreifen zu müssen.

Innovatives Konzept weiterentwickeln

Einen neuen Ansatz zum Ersatz von in vivo Tests an Fischen entwickeln nun die Eawag, das ehemalige Eawag Spin-off aQuaTox-Solutions und das Slowenische Nationale Institut für Biologie. Nachdem sie in Phase 1 der «CRACK IT Challenge SAFE - innovative Safety Assessment of Fish adverse Effects» des britischen «National Centre for the Replacement, Refinement and Reduction of Animals in Research» (NC3Rs) 100’000 britische Pfund gewonnen hatten, erhielten die Forschenden nun weitere 700’000 Pfund (rund 800’000 Schweizer Franken), um das Verfahren zur Marktreife zu bringen. Die Phase 2 dauert drei Jahre und wird von den Industriepartnern AstraZeneca, Bayer und Unilever unterstützt. Bei der Entwicklung des neuen Testsystems setzen die Wissenschaftler auf ein Konzept, das in der Risikobewertung noch nicht weit verbreitet ist: Adverse Outcome Pathways (AOP).

Fragen an Prof. Kristin Schirmer (Abteilungsleiterin Umwelttoxikologie) und Stephan Fischer (CEO aQuaTox-Solutions)

Was sind AOP und wie funktionieren sie in der Umweltrisikobewertung?

Schirmer: Adverse Outcome Pathways steht für «Wege zu unerwünschten Wirkungen». Die Idee dabei ist, zu verstehen, wie Chemikalien für einen lebenden Organismus toxisch wirken. AOP beschreiben verschiedene Schritte, die zu Toxizität führen können - beginnend auf der molekularen Ebene - die sich in der Zelle, im Gewebe und im ganzen Organismus fortsetzen, ähnlich einem Dominoeffekt. Die finale «unerwünschte Wirkung» misst man traditionellerweise im Tierversuch: Ein Fisch kann dann nicht mehr wachsen, sich nicht fortpflanzen oder stirbt sogar. Aber wie kam es dazu? Diese Entstehungswege (also die AOP) können wir in kultivierten Zellen messen - wir müssen einfach die richtigen Kombinationen finden, die uns genau vorhersagen können, was das Endergebnis sein wird. Dort setzen wir an. Unsere Hypothese ist, dass wir mit Hilfe gezüchteter Fischzellkulturen, sogenannter Zelllinien, relevante AOP messen können. Die Messdaten fliessen dann in ein Computermodell, so dass es künftig ausreicht, diese Prozesse in den Zellkulturen zu beobachten, um daraus die Wirkung auf einen Organismus, in unserem Fall Fische, zu berechnen - ohne Tierversuche durchführen zu müssen.

Sie haben bereits Tests entwickelt, welche die Effekte von Chemikalien statt an Fischen an Fischzellen testen. Die AOP-Tests sind eine Weiterentwicklung davon. Warum braucht es das?

Fischer: Ja, aQuaTox-Solutions hat eine Reihe von Tests mit Fischzellkulturen im Portfolio, die wir der chemischen Industrie, Umweltbehörden oder Fischfutterherstellern als Alternative zu konventionellen Fischtests für die Risikobewertung anbieten. Ein Wegbereiter für diese Fischzelltests ist der sogenannte RTgill-W1 Zelllinientest zur Bestimmung der akuten Fischtoxizität, welcher von der Eawag entwickelt wurde und mittlerweile sowohl das Gütesiegel der ISO und der OECD trägt. Allerdings schauen wir bei den meisten dieser Tests bisher nicht auf die Entstehungswege der Toxizität, sondern messen, ähnlich zum Tierversuch, nur das Endresultat, also zum Beispiel das Überleben der Zellen oder ihr Wachstum. Mit der Erweiterung auf die AOP streben wir eine noch bessere Auflösung von Chemikalienwirkungen und somit noch sensitivere und breiter einsatzbare Tests an.

Schirmer: Unser Projekt zielt darauf ab, skalierbare zellbasierte Tests in Kombination mit Computermodellen so einzusetzen, dass Aussagen über die Chemikalienwirkung auf Fische ohne Tierversuche gemacht werden können. Dabei fokussieren wir uns auf Chemikalien, welche die Fortpflanzung von Fischen behindern. In Phase 1 dieses Projekts haben wir dazu eine neuartige, mehrstufige Berechnungspipeline entwickelt, die es uns ermöglicht, molekulare Prozesse zu identifizieren, die vorhersagen können, ob die Fortpflanzung von Fischen durch die Chemikalie beeinträchtigt ist. Diese Prozesse wollen wir nun in Fischzelllinien nachweisen und aus diesen Daten computergestützten Vorhersagemodelle für Fische entwickeln.

Fischer: Wir werden die gewonnenen Erkenntnisse und entwickelten Dienstleistungen und Produkte breit zugänglich machen, um einen maximalen Nutzen für den Ersatz von Tierversuchen zu gewährleisten. Die Unterstützung dieses Wettbewerbs durch die chemische Industrie zeigt uns, dass Bedarf besteht. Dabei geht es nicht nur um die Risikobewertung von Chemikalien, die auf den Markt kommen sollen, sondern auch um eine effizientere Produktentwicklung, so dass Chemikalien mit toxischer Wirkung auf Fische von vornherein ausgeschlossen werden können. Andere potentielle Anwendungen betreffen die Aquakultur oder das Testen von Umweltproben.

Was hat sie motiviert an dieser Challenge mitzumachen?

Beide: Die Challenge fühlt sich an, als ob sie genau auf uns zugeschnitten ist. An der Idee, Tierversuche mit Fischen durch Fischzelllinien zu ersetzen und solche Tests zu standardisieren, arbeiten wir ja schon lange, ebenso an der Verbindung mit Computermodellen. Die Challenge anzunehmen ist uns eine Herzensangelegenheit, dass wir den Zuschlag bekommen haben, eine grosse Ehre und Ansporn.