Vergessene Verwandte

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Zurich - University of Zurich

Die Soziologien Nina Jakoby untersucht die Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen über die Kleinfamilie hinaus: Tanten und Onkel, Neffen und Cousinen sind bisher ein vernachlässigtes Forschungsgebiet, obwohl ihre gesellschaftspolitische Bedeutung wächst.

Marita Fuchs

Gerne lässt man gerade zur Weihnachtszeit die Familie hochleben. Wie geht es dem Cousin in den USA, und kommt der Neffe auch klar mit dem Studium? Von den Kindern wird die Gotte mit dem Ausruf «Hast Du auch was mitgebracht?» bestürmt. Wie wichtig sind verwandtschaftliche Beziehungen, die über die Kernfamilie Mutter, Vater, Kinder und Grosseltern hinausgehen?

«Emotionale Bindungen, Kontakte und der soziale Austausch von Hilfeleistungen bleiben nicht nur auf die Kernfamilie beschränkt», sagt Nina Jakoby, Oberassistentin am Soziologischen Institut. Die Soziologin hat in einer Sekundäranalyse die Bedeutung der so genannten erweiterten Familie anhand von Daten aus Deutschland untersucht und darüber ein Buch verfasst.

«Die Ergebnisse lassen sich durchaus auf Schweizer Verhältnisse übertragen», meint Jakoby und stellt fest: Der Bedeutungsverlust der erweiterten Familie werde immer behauptet, empirische Belege für diese zentrale Annahme der Familiensoziologie gebe es jedoch nicht.

«In der familiensoziologischen Forschung ist die Eltern-Kind-Beziehung das dominierende Thema, Familie scheint für viele Forscher bei den Grosseltern zu enden», so Jakoby. Die Gründe liegen in der Annahme, dass die weitere Verwandtschaft in modernen, industrialisierten Gesellschaften an Bedeutung verliere.

Einige Forscher gehen sogar davon aus, dass die Verwandtschaftsbeziehungen zu Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen sowie Cousins und Cousinen in ihrem Status zwischen institutionalisierter Familienbeziehung und frei gewählten Freundschaften nichts zur Lösung sozialer und individueller Probleme beitragen.

Nina Jakoby konnte in ihrer Untersuchung diese These widerlegen. Zwar sei die Offenheit ein wesentliches Charakteristikum der modernen Verwandtschaftsbeziehungen: Jeder sei frei, die Beziehung zur Tante und zum Cousin zu pflegen oder nicht, doch könne schnell ein Kontakt hergestellt werden, auch wenn man länger nichts mehr voneinander gehört habe.

«Verwandtschaftsbeziehungen bleiben oft inaktiv und werden erst in persönlichen Krisensituationen aktiviert. Diese Art der familiären Verbindung kann man – in Anlehnung an den Soziologen Friedhelm Neidhardt – auch als ´Solidarität auf Abruf´ bezeichnen», so Jakoby.

Insgesamt steige jedoch die Bedeutung der erweiterten Familie an. Auf die Frage, ob Onkel und Tanten, Neffen und Nichten zur Familie gehören, antworteten im Jahr 1953 nur zwei Prozent mit Ja, im Jahr 2000 waren es 14 Prozent. Das auch, weil die erweiterte Verwandtschaft wichtige Aufgaben übernimmt. So übernehmen zum Beispiel Nichten und Neffen emotionale und praktische Unterstützungsleistungen für ihre älteren Familienangehörigen.

Auf die Frage, ob sie Kontakt mit Onkeln und Tanten in den letzten vier Wochen gehabt hätten, antwortete die Hälfte der Befragten positiv. Mindestens einmal in den letzten vier Wochen hatten sie ihre Onkel und Tanten besucht, sie angerufen oder brieflichen und/oder E-Mail-Kontakt gehabt.

Die Unterschiede liegen in der Kindheit. Die Wichtigkeit und Präsenz der Verwandten in der Kindheit spielten eine grosse Rolle für spätere Kontakte, so Jakoby. Aus der Perspektive der Nichten und Neffen werde häufig eine fehlende Beziehung zu den Eltern als Grund für intensivere emotionale Bindungen und  Kontakte genannt.

Auch wird die Qualität der geschwisterlichen Beziehung der Eltern erwähnt. Hatten Eltern und ihre Geschwister ein intensives Verhältnis, überträgt sich das auf die Kinder: Die Kontakte zu Onkel und Tante, Cousin und Cousine bleiben erhalten. Es besteht in der Regel jedoch eine grössere affektive Bindung an Onkel und Tante als an Cousin und Cousine. «Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Familie nicht bei den Grosseltern endet», stellt Jakoby fest.

Es gebe leider zu wenig aktuelle Erhebungen zur Bedeutung der erweiterten Verwandtschaft heute, bedauert Jakoby. Gerade die demografische Entwicklung hin zur Kleinfamilie mache Tanten und Onkel als auch Cousinen und Neffen fast zu einer «familiensoziologischen Rarität», wie es die Soziologin Doris Lucke ausdrückt.

Die quantitative Abnahme der erweiterten Verwandtschaft bedeute jedoch nicht automatisch einen Bedeutungsverlust. Das Gegenteil sei denkbar: Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten erfahren in kleinen Familien aus der Sicht der Individuen einen Bedeutungszuwachs.

Verwandtschaftliche Beziehungen ausserhalb der Kernfamilie verändern sich auch im Verlauf eines Lebens, meint Jakoby. Geschwister, die während einer langen Arbeitsphase kaum Zeit für Kontakte ausserhalb ihrer Kernfamilie hatten, suchen diese aktiv wieder, sobald sie mehr Zeit haben – im Rentenalter zum Beispiel. Dann kommen auch die Kinder der Geschwister wieder ins Spiel.  Generell müsse jedoch intensiver in diesem Bereich geforscht werden, so Jakoby.

Literatur:

Jakoby, Nina: (Wahl-)Verwandtschaft – Zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 2008

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