Als Forscher und Dozent, Mitglied der Schulleitung und erster Delegierter für die weltweite Präsenz der ETH hat Gerhard Schmitt die Entwicklung der Hochschule massgeblich mitgeprägt. Nun ist der Professor für Informationsarchitektur emeritiert. Ein Rückblick.
Der Treffpunkt mit Gerhard Schmitt ist Einsiedeln, wo er mit seiner Frau und den Töchtern lebt: Wallfahrtszentrum seit Jahrhunderten, aber auch ein Kraftort für Agnostiker. Das Gespräch, coronabedingt draussen am Klosterplatz, wird von diversen «Hallo» und «Wie gehts?» begleitet. Es wird klar: Der ETH-Professor, bekannt für seine mutigen Visionen und dafür, dass er sich lange Jahre als Botschafter der ETH zwischen den Kontinenten bewegt hat, ist auch ein stark verwurzelter «Einsiedler».
Wobei seine Weltgewandtheit keine Selbstverständlichkeit ist: «Ich habe in meiner Laufbahn früh festgestellt, dass physische Verfügbarkeit ein Luxus ist, und anstrengend dazu», sagt er. «Etwa ein Drittel der Aufgaben benötigt persönliche Präsenz. Zwei Drittel lassen sich genauso gut oder sogar besser im Online-Austausch erfüllen.» Mit dieser Éberzeugung setzte er in seiner wissenschaftlichen Arbeit schon ab den frühen 90-er Jahren auf Telepräsenz und vernetzte sich weltweit. Ab dem Jahr 2000 initiierte und entwickelte er mit einem Projektteam für die Hochschule im Programm «ETH World» zahlreiche Instrumente und Formen virtueller Vermittlung und Zusammenarbeit; etwa eine Produktionsplattform für Video-Streaming, das Videoconferencing der ETH oder E-Pics, das Bildinformationssystem der ETH-Bibliothek, und das noch heute laufende Projekt Neptun, um den Zugang zur Informationswelt zu schaffen. Das Virus, das die Welt vor beispiellose Herausforderungen stellt, hat bestätigt, wie weitsichtig dieses Denken war.
Auslöser: ein Erdbeben
Studentische Mobilität war Anfang der siebziger Jahre in Europa noch nicht der Normalfall, für Gerhard Schmitt jedoch sehr wohl. Aufgewachsen in der Gutenbergstadt Eltville am Rhein, begann er nach dem Abitur und dem Militärdienst als Fallschirmjäger an der Uni Frankfurt Mathematik, Physik, Astronomie und Politik zu studieren, wo seine Mutter als Professorin und Pionierin der Herzchirurgie ein grosses Labor betrieb. Das war die Zeit, als viele Studierende die Hörsäle eher als Bühnen ihres politischen Protests sahen und weniger als Orte des Wissenserwerbs.
Nicht diese Umstände, sondern die Erkenntnis, dass es die Architektur war, die ihn wirklich faszinierte, liessen Gerhard Schmitt bald an die TU München weiterziehen. Die Vernetzung mit Erdbebenforschung und Energieeffizienz und das Computer-unterstützte Modellieren als Methode wurden in der Architekturausbildung in Europa damals noch kaum beachtet. Doch genau damit wollte er sich auseinandersetzen, angestachelt unter anderem von dem verheerenden Erdbeben, das sich 1976 in der italienischen Region Friaul ereignete. So kam er dank eines Begabtenstipendiums 1979 an die UCLA und ein Jahr später nach Berkeley. Dort mündete seine Masterarbeit im Jahr 1981 in ein vierbändiges Werk über energiebewusstes Bauen. Für das Doktorat konnte Schmitt mit Hilfe der Supercomputer des Lawrence Berkeley Laboratory die Energieforschung, Architektur und Simulation noch gründlicher verknüpfen und vertiefen.
Starthelfer für computergestützte Architektur
1984 erhielt er eine Assistenzund drei Jahre später eine ausserordentliche Professur für Architektur an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. 1988 erfolgte der Ruf an die ETH Zürich für Computer Aided Architectural Design (CAAD), und damit der Aufbau der computergestützten Lehre und Forschung im Departement Architektur. Als Forscher initiierte Schmitt Nationalfondsprojekte, etwa auf dem Gebiet der Künstlichen Design-Intelligenz, um neuartige Entwurfshilfen zu entwickeln. An seiner Professur haben in zehn Jahren insgesamt über 3000 Studierende und Doktorierende Kompetenzen in CAAD erworben.
Gerhard Schmitts wissenschaftliches Interesse gilt immer den Bedingungen, unter denen Menschen ihr Zusammenleben am besten organisieren können: «Als ich vor 40 Jahren zu forschen begann, lautete das Ziel, optimale Gebäudehüllen zu modellieren. Aber das genügte nicht; die Nutzer beeinflussen den Energieverbrauch zu 80 Prozent. Modelle müssen deshalb auch das menschliche Verhalten integrieren.» Für das Bauen in früheren Zeiten waren Mensch und Natur schlicht der zwingende Massstab. «Das Wissen über den Einfluss von Material, Lage und Witterung war tief verankert. Dies führte schon vor Jahrhunderten zu nachhaltigem Bauen und Wirtschaften. Gerade an Klöstern wie hier in Einsiedeln lässt sich -responsives- Design, das heisst eine verantwortungsvolle und langfristige, konsequent an den menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten ausgerichtete Bauweise, ausgezeichnet studieren», so Schmitt. Heute gehe es in Architektur und Stadtforschung oft darum, Effekte zu erzeugen, die mit den damaligen vergleichbar sind - im viel grösseren Massstab allerdings.
Im Dienste der ETH
Von 1998 bis 2008 stellte sich Schmitt in den Dienst der ETH als Gesamtinstitution. Als Vizepräsident für Planung und Logistik lenkte er den Autonomieprozess, den das revidierte ETH-Gesetz ermöglichte und der den Gestaltungsspielraum der ETH deutlich erhöhte. Er bahnte den Weg für bedeutende private und institutionelle Co-Finanzierungen zum Bau neuer Gebäude wie dem «Branco Weiss Information Science Laboratory» oder dem Sportzentrum. Und nicht zuletzt gab er die entscheidenden Impulse für die Entwicklung des ETH-Standorts Hönggerberg zu einer lebendigen «Science City» und bereitete mit der Planungskommission den massiven Ausbau der ETH Zürich vor.
Weltoffenheit gehörte immer zum Charakter der ETH. Doch 2008 war unter ETH-Präsident Ralph Eichler die Zeit reif, das globale Engagement der Hochschule strategisch auszurichten und ihm eine offizielle Basis zu geben. Gerhard Schmitt wurde der erste Delegierte der ETH für Internationale Institutionelle Angelegenheiten, die 2012 mit dem Nord-Süd-Zentrum zu ETH Global fusionierten. Diese Stabsstelle bündelte zusammen mit Gerhard Schmitt in seiner Funktion als Delegierter ETH Global die gesamte Breite der Globalisierungsund Entwicklungsthemen der Hochschule.
Wissen soll wirken
Die Gesamtperspektive ist der Ansatz, den Schmitt auch am Singapore ETH-Center (SEC) verfolgt, dessen Aufbau er ab 2010 massgeblich und mit viel persönlichem Einsatz als Gründungsdirektor vorantrieb. Im «Future Cities Laboratory» (FCL) wurden die unzähligen Faktoren der Stadtentwicklung - Gesellschaft, Infrastruktur, Verkehr, Wirtschaft, Kultur, Politik - im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung isoliert und in ihrer Gesamtwirkung studiert, und zwar «through science, by design, in place», wie das FCL seinen Anspruch selbst beschreibt. Viele der Ergebnisse stellten er und sein Team in der ETH-MOOC Serie «Future Cities» mehr als 180’000 eingeschriebenen Studierenden aus 180 Ländern zur Verfügung.
Dabei entwickelte Schmitt sein Fachgebiet zur Informationsarchitektur weiter, auch dank der enormen Fortschritte in Informatik und Datenwissenschaften. Die mit dem Science-City-Projekt gewonnenen Erfahrungen waren dabei essenziell und führten zur Entwicklung der «Citizen Design Science»: Seine Professur schuf Instrumente, dies es erlauben, urbanes Leben auf allen Skalen - vom Gebäude bis zur Metropolitanregion - zu simulieren und zu visualisieren.
«In place», also an Ort und Stelle, verweist auf einen weiteren wichtigen Antrieb von Gerhard Schmitt: Sein Wissen soll wirken. In den dicht besiedelten Metropolen weltweit sind Faktoren wie Luftverschmutzung, Lärm, Umweltschäden und im Zuge des Klimawandels vor allem die Hitze zu einer riesigen Herausforderung geworden. «Damit das Leben in Grossstädten nicht noch mehr zum Gesundheitsrisiko wird, braucht es rasche, griffige Massnahmen », sagte er. « Ich bin deshalb froh, dass sich die Stadt Singapur in unserem transdisziplinären und transinstitutionellen Projekt ’Cooling Singapore’ engagiert und die Erkenntnisse und Vorschläge Teil ihrer Planung werden.»
Die Forschung zu den Themen Urbanisierung, Resilienz und Gesundheitstechnologien expandiert. Mit Gerhard Schmitt als Direktor wurden 2020 drei Grossprojekte gestartet, in die der Stadtstaat, die ETH Zürich und die Universitäten in Singapur in den kommenden Jahren investieren.
Wieder Architekt
Seine Emeritierung und die Ébergabe der Leitung in Singapur an Gisbert Schneider ermöglichen ihm nun, gewisse Fäden wieder aufzunehmen. Nach langer Zeit freut er sich darauf, wieder als Architekt zu wirken. Sein steinernes Elternhaus im Rheingau brannte vor vier Jahren ab. Im Neubau, den er entwarf, materialisieren sich Schmitts Kompetenzen und Erfahrung: «Das Haus im Weinberg wird aus Holz sein. High-tech vernetzt, nicht nur smart, sondern responsive. Und es wird deutlich mehr Energie für Wohnen und Mobilität produzieren als es verbraucht - ein kleines Beispiel für die regenerativen Städte von morgen».